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Einsamen

Einsamen

Titel: Einsamen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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bei der Landeskunde geschlampt, und meinen Proust-Aufsatz habe ich in drei Nächten zusammengeklatscht. In diesem Semester studiere ich Englisch und parallel dazu Literaturwissenschaften. Am Anglistischen Seminar gibt es einen jungen amerikanischen Lehrbeauftragten – ich glaube, er ist Vietnamdeserteur –, dem ich ein wenig aufgefallen bin. Ich habe aber beschlossen, mich nicht drum zu kümmern, obwohl ich ihn eigentlich mag. Gleichzeitig denke ich, das ist ein Zeichen, dass ich ein Spießbürger werde, was mir wirklich nicht gefällt, aber auch das kann ich nicht mit Germund besprechen.
    Ich jobbe ab und zu beim Profeten. Das ist dort, wo dieser Verrückte vor einem Jahr mit einer MP um sich geballert hat, aber das wird ja wohl kaum wieder vorkommen. Ich muss jobben; Germund und ich haben etwas zu teure Gewohnheiten, als dass das Stipendium dafür reichte, und ich will Mama und Papa nicht um Geld bitten. Also scheiß drauf! Mama würde nichts lieber sehen, als wenn ich zu Kreuze kriechen würde.
    Germund ist jedoch auf andere Art zu ein bisschen Geld gekommen. Er hat bei Lundequist ein Stipendienhandbuch gekauft und sich ein Stipendium herausgesucht, das wie maßgeschneidert für ihn ist. Elternloser Naturwissenschaftler aus Gästrikland, gestiftet von einer alten Kirchengemeinde vor über hundert Jahren. Da waren problemlos zehntausend Kronen einzuheimsen, und das Beste daran ist, dass er das jedes Jahr beantragen kann, so lange er in der Vereinigung von Gästrikland eingeschrieben ist. Wir planen im Sommer eine Reise, wahrscheinlich in die Normandie und die Bretagne; er hat mir angeboten, einen Teil für mich zu bezahlen, warum sollte ich also Nein sagen? Und Paris natürlich. Ich habe drei Prüfungen in Französisch bestanden und bin noch nie in Paris gewesen, das ist vermutlich einzigartig. Germund überlegt, für den Sommer ein Auto für zwei-, dreitausend zu kaufen und es zum Herbst hin wieder abzustoßen. Wenn wir nach Mittsommer fahren, haben wir zwei Monate Zeit; das mit Spanien muss warten.
    Ein paar Tage nach Taddis traf ich Anna allein, es war das erste Mal, dass ich mit ihr richtig geredet habe. Wir sind einfach auf der Kungsgatan aufeinandergestoßen, und anschließend haben wir zusammen einen Kaffee getrunken, da sie gerade einen Zug nach Stockholm verpasst hatte und gezwungen war, eine Stunde auf den nächsten zu warten. Ich spürte bald, dass sie mir leid tat. Ich weiß nicht, warum, normalerweise tun mir Leute nicht leid. Vielleicht die ganze Menschheit, aber selten Individuen. Es war etwas an ihrer vorsichtigen Art, glaube ich. Als bedrückte sie etwas, ich nehme an, es kommt aus der Kindheit, das ist ja meistens so. Gewissen Menschen fällt es schwer, aus ihren Schuhen zu steigen, auch wenn sie zu klein geworden sind. Wenn Anna einen Raum betritt, bittet sie um Verzeihung. Selbst wenn es sich nur um ein Café handelt, obwohl sie bereit ist, eine lächerliche Tasse Kaffee und einen ebenso lächerlichen Kuchen viel zu teuer zu bezahlen. Als wäre sie der Meinung, sie hätte nicht das Recht, sich hier aufzuhalten. Als nähme sie jemand anderem den Platz weg.
    Gleichzeitig erscheint sie stark, das ist paradox, und ich kann mich erinnern, dass ich das schon gedacht habe, als ich sie das erste Mal gesehen habe. Sollte tatsächlich jemand kommen und sie bitten, wegzugehen, dann kann ich mir gut vorstellen, dass sie dem Betreffenden vorschlagen könnte, doch zur Hölle zu fahren. Sie würde sich strecken und sich verteidigen.
    Aber über so etwas haben wir uns natürlich nicht unterhalten. In erster Linie haben wir über das Studium gesprochen, sie besucht die Journalistenschule in Stockholm, und dort ist der Kommunismus ziemlich hoch im Kurs. Sie selbst steht ja links, ist aber nicht so eine blöde Wein- und Wochenendlinke wie alle anderen, sondern irgendwie fundamentaler. Es geht ihr eher um Gerechtigkeit als um Politik. Hunger auf der Welt, Unterdrückung und so. Ich respektiere das, obwohl es sicher darin begründet liegt, dass sie selbst einen Arbeiterhintergrund hat. Ich glaube, ihr Vater war so ein eiserner Gewerkschaftler, bevor er angefangen hat, zu viel zu saufen.
    Anna und Rickard überlegen, bald zusammenzuziehen, sie hat das nie so explizit gesagt, aber ich habe es schon verstanden, und die beiden passen ja zusammen. Vielleicht ähneln sich die Leute auch nur immer mehr einander an, wenn sie zu viel zusammen sind. Verschmelzen wie traurige Quallen, ob sie es nun wollen oder nicht. Seit

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