Einschlafbuch Fuer Hochbegabte
auf. Das ist kein Zufall. Eine ganze Schlafphilosophie rankt sich um dieses Phänomen – um die Hoffnung, man könne Lösungen für Probleme erträumen oder über Nacht eingeflößt bekommen. Man solle mit der Frage zu Bett gehen, Engel, Ahnen, Götter, Bodhisattvas um Hilfe bitten, am folgenden Morgen sei die Antwort klar.
Daran ist etwas Wahres, stellten die Schlafforscher fest. Der sogenannte Alpha-Zustand, in den ein Schläfer gleitet, benannt nach der Frequenz der Gehirnströme, öffnet weitere Räume als das gewöhnliche Alltagsbewusstsein. Das Alltagsbewusstsein, von den Gehirnvermessern Beta-Zustand getauft, wird von einer latenten Alarmbereitschaft verdunkelt. Diese ständige Anspannung reduziert Offenheit und Einfallsreichtum. Im Alpha-Zustand jedoch, der sich beim Einschlummern zum noch tieferen Theta-Zustand wandelt, versperrt keine Furcht mehr den Weg ins Reich der Möglichkeiten. Die Tür steht offen. Sie öffnet sich ausgerechnet im Moment des Einschlafens.
Deshalb kommt, wer in den Schlaf sinkt, auf Ideen, die ihm bei Tag »nicht im Traum« eingefallen wären. Das gilt für jeden Schläfer. In der Regel gehen diese Ideen unter. Sie versinken im Strudel der recycelten Bilder vom vergangenen Tag. Falls sie besonders hervorleuchten, werden sie oft mit einem letzten Gedanken verbunden: Das merke ich mir bis morgen! Am Morgen ist die Tür jedoch wieder geschlossen, die Idee vergessen. Da war doch was, gestern, beim Einschlafen, das ich mir merken wollte? Tja.
Zwar gibt es am Morgen, zwischen dem Erwachen und dem Anspringen des Tagesbewusstseins, einen kurzen Moment, der dem Übergang beim Einschlafen gleicht. Doch er vergeht rascher. Das liegt daran, dass das Ich-Bewusstsein beim Erwachen möglichst schnell die Kontrolle zu erlangen sucht. Es schlägt die Tür zu, die sich beim Einschlafen geöffnet hat. Die Hirnforscher beobachten an dieser Nahtstelle, wie der gewöhnliche Beta-Zustand die Tagesherrschaft übernimmt – mit erhöhtem Puls und nervöser Alarmbereitschaft; originelle Einfälle müssen fürs Erste draußen bleiben.
»Der Moment des Einschlafens ist der Moment der Anarchie«, frohlockte der Musiker Tom Waits. Er verdanke alle Eingebungen dieser schrankenlosen Weite, deren Ausbleiben er bei Tag gelegentlich mit spirituellen Getränken zu kompensieren suchte. Anarchie beim Einschlafen bedeutet: Der gewöhnliche Herrscher des Bewusstseins, das Ich, dankt ab. Seine Struktur zerfließt, das Selbstbild wird nicht mehr verteidigt. Deshalb wirkt es auch nicht mehr als Filter. Alles kann einströmen. Und bei Leuten mit sensiblen Antennen sind das zuweilen umwerfende Ideen.
Genau das meint die Lady, die sich Gaga nennt, wenn sie ungestraft behauptet, sie komponiere im Schlaf. Das meinte auch der Erfinder Thomas Edison, als er predigte, jenes entscheidende Prozent Inspiration stelle sich bei Nacht ein, von selbst, aus unbekannten Quellen. Die neunundneunzig Prozent Transpiration, die dann folgen müssten, seien eine Sache der Rationalität und der Ausarbeitung bei Tag. Der skurrile Maler Salvador Dalí, so schilderte es seine Gefährtin, erhob sich im Dunkeln aus dem Halbschlaf, um bei ausgewählt trüber Lampe etwas zu skizzieren, das er vor seinem inneren Auge gesehen hatte. Wenn er vom Entwurfspapier in die Kissen zurückkehrte, fand er häufig keinen Schlaf mehr. Die Idee hatte ihn befeuert. Und Begeisterung, das ist das Dilemma, hält wach.
Was tun wir dagegen? Nicht gegen die Begeisterung und die genialen Einfälle, sondern gegen das Wachbleiben? Der armenische Schachweltmeister Garri Kasparov beklagte nach dem verlorenen Turnier gegen den jüngeren Wladimir Kramnik, dass ihn beglückende Varianten von Eröffnungen und Verteidigungen nachts vom Schlaf abgehalten hätten; bei Tag habe dann die Konzentration gefehlt.
Giuseppe Cipriani, der vor achtzig Jahren »Harry’s Bar« in Venedig eröffnete, wurde gegen Morgen regelmäßig von Einfällen für Cocktailrezepte heimgesucht, gegen vier oder fünf Uhr, wenn er sich gerade zur Ruhe gebettet hatte. Zutaten notieren war dann unumgänglich; häufig stand er auf und suchte die Flaschen zusammen. Er sah immer müde aus.
»Die Ernte der Schlaflosigkeit«, hat André Heller dergleichen künstlerische Schöpfungen genannt. Natürlich ist die Ernte nicht immer reich. Bei Barmixer Cipriani sprang der glorreiche Cocktail Bellini heraus, Champagner mit weißem Pfirsichmark; doch viele andere seiner Kreationen waren zwar der Schlaflosigkeit zu
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