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Einstein - Einblicke in Seine Gedankenwelt

Einstein - Einblicke in Seine Gedankenwelt

Titel: Einstein - Einblicke in Seine Gedankenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Moszkowski
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Tangentenansage zu bezweifeln. Sie verstand sich eben von selbst, als eine mathematische Erkenntnis. Und sicherlich hat weder Newton, noch Leibniz, noch ein Bernoulli – von den alten Mathematikernganz zu schweigen – daran gedacht, daß jemals eine stetige Kurve ohne Tangente oder eine stetige Funktion ohne Differentialquotienten auftreten könnte.
    Zudem hatte man doch einen Beweis in der Hand, und dieser Beweis wurde in Lehrbüchern gedruckt, in Hörsälen oft vorgetragen, ohne daß gegen ihn der Schimmer eines Verdachtes aufgestiegen wäre. Denn es handelte sich nicht nur um eine demonstratio ad oculos, sondern um die Anrufung des uns eingepflanzten Anschauungsvermögens. Und man darf getrost behaupten, daß bis zum heutigen Tag kein Mensch auf der Welt existiert, der imstande wäre, sich eine stetig gekrümmte Linie ohne die Möglichkeit einer Tangente wirklich vorzustellen. Er vermöchte dies nicht einmal für einen einzelnen Punkt.
    Trotzdem fanden sich Forscher, die zu zweifeln begannen. Bei Riemann und Schwarz verdichtete sich der Zweifel bis zu dem Nachweis, daß gewisse Funktionen in gewissen Punkten ihre Bereitwilligkeit versagten. Aber erst Weierstraß schlug offene Bresche in die alte felsenfeste Überzeugung. Er stellte eine Funktion hin, die in jedem Punkte stetig ist, in keinem einzigen differentiierbar. Das graphische Abbild müßte eine stetige Kurve ohne irgendwelche Tangente sein.
    Wie sieht ein derartiges Gebilde aus? Wir wissen es nicht und werden es vermutlich niemals erfahren. Als im Gespräch diese Weierstraß-Frage auftauchte, sagte mir Einstein, daß solche Kurve außerhalb aller Vorstellungsmöglichkeit läge. Wobei noch zu bemerken, daß die Weierstraß-Funktion in ihren mathematischen Zeichen zwar nicht gerade den Anblick der Einfachheit gewährt, aber doch nicht den einer unfaßbaren Verwickelung. Und ferner: wo eine solche Funktion (oder Kurve) existiert, da werden sich andere hinzufinden (Poincaré erwähnt, daß Darboux tatsächlich bereits im selben Jahre andere Beispiele geliefert hat); und nicht bloß andere, sondern viele, unendlich viele. Ja noch mehr: man darf annehmen, daß auf je eine stetige Kurve mit Tangenten, unendlich viele ohne Tangenten entfallen, so daß jene die Ausnahme, diese die Regel darstellen. Ein erschütterndes Bekenntnis, das an die Grundfesten der mathematischen Überzeugung rührt, dem aber nicht auszuweichen ist.
    Wie können wir nun das Prinzip der »Annäherung« auf diese Betrachtungen anwenden? Dürfen wir sagen: jener vormalig geglaubte, vormals bewiesene Lehrsatz bietet eine Annäherung an die mathematische Wahrheit.
    Nur sehr bedingungsweise, in einem gewissen, äußerst enggegriffenem Sinne. Wenn wir uns nämlich in der Entwickelungder Wissenschaft etwa den Zeitpunkt vorstellen, da man eben erst anfängt, den Begriff und die Eigenschaften der Tangenten in Untersuchung zu ziehen. An diesem Wissenschaftsstand gemessen, bedeutet jener Lehrsatz trotz seiner Unrichtigkeit einen Fortschritt, eine erste Annäherung an die Wahrheit; denn er berichtet über eine Fülle – für uns sehr wichtiger – Kurven, die überall Tangenten aufweisen, und mit dieser Erkenntnis nähern wir uns bereits der erhöhten Wahrheit, die sich in dem Weierstraß-Beispiel darbietet. In fernerer Zeit wird der Studienbeflissene jenen Satz nur als ein anekdotisches Kuriosum erfahren, so wie wir von gewissen astrologischen und alchimistischen Irrlehren Kenntnis erhalten, und er wird daneben andere Sätze kennen, die uns Heutigen als bewiesen gelten, obschon sie in Wirklichkeit nur näherungsweise bewiesen waren. Denn was bedeutet es schließlich, daß z. B. Gauß gewisse Beweise früherer Algebraisten als »nicht streng genug« verworfen und durch »strengere« ersetzt hat? Nichts anderes, als daß auch in der Mathematik dem einen Forscher etwas lückenlos, stringent und evident erscheint, worin der andere Risse und Löcher erblickt. Vollendete Richtigkeit besitzen nur die Identitäten, Tautologieen, die zwar in sich absolut wahr aber nicht zeugungsfähig sind. Somit sitzt im Grunde jedes Satzes und jedes Beweises ein Rest von Dogma und in allen zusammen das niemals zu erweisende Dogma von der Unfehlbarkeit.
    Als äußerst interessant muß es erscheinen, daß jene, auf den ersten Blick so rätselhafte Tangentenangelegenheit, in der Natur selbst ein physikalisches Gegenbild findet; und zwar in Molekularbewegungen, zu deren Ergründung wiederum unser Einstein mächtig beigetragen

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