Einstein - Einblicke in Seine Gedankenwelt
Einsteins eigenen Forschungen, namentlich in deren Verhältnis zur älteren, der sogenannten klassischen Mechanik so bedeutsam hervortritt, möge hier nach den Erörterungen entwickelt werden, wie sie mir nach mehrfachen Gesprächen im Bewußtsein geblieben sind.
Stellen wir uns vor, wir hörten zwei Menschen über die Form der Erdoberfläche streiten. Der eine behauptete, sie wäre eine unbegrenzte Ebene, der andere definierte sie als Kugel; so würden wir nicht einen Augenblick zögern, den ersten als den Vertreter des Irrtums, den zweiten als den der Wahrheit zu bezeichnen; und so lange sich die Frage in der Alternative »Ebene oder Kugel« erschöpft, wäre in der Beantwortung »Kugel« die restlose, absoluteWahrheit gegeben. Trotzdem wäre diese Wahrheit nur eine relative, denn jene zwei Behauptungen sind nur unter sich kontradiktorisch; und zwar nur so lange, als nicht eine dritte Behauptung auftritt, die der Behauptung »Kugel« eine neue Kontradiktion entgegenstellt.
Wenn jetzt der Streit zwischen jenem zweiten und einem dritten Debatter weitergeht, so hätte dieser dritte alles Recht zu der Ansage: die Erklärung Kugel ist falsch. Denn der Begriff Kugel bedingt die Gleichheit aller Durchmesser, während wir bei der Erde die Ungleichheit genau kennen, und die Entfernung von Pol zu Pol erweislich kleiner finden, als die von einem Äquatorpunkt zum gegenüberliegenden. Die Erde ist ein Rotationsellipsoid, und diese Wahrheit ist eine absolute, gemessen an den Irrtümern, die sich in den Stichworten Ebene und Kugel ausdrücken.
Und wiederum wäre hinzuzufügen, daß dieses Absolutum nur so lange gilt, als die Kontradiktion zwischen einer bestimmten Kugel und einem bestimmten Ellipsoid ins Auge gefaßt wird. Bestehen da wirklich, wie bei der Erde, ganz verschiedene Ausmaße, so waltet zwischen beiden Aussagen ein vollkommener Widerspruch, und wenn der Ellipsoid-Anwalt recht hat, so muß der Kugel-Anwalt, der eben noch gegen den Vertreter der Ebene gesiegt hatte, nunmehr kapitulieren. Der Kugel-Behaupter hatte die Wahrheit inne gegen den ersten Streiter, und diese Wahrheit erweist sich gegen den dritten als ein Irrtum.
Die elementare Logik wird dadurch nicht außer Kraft gesetzt. Diese lehrt in einem Satz, der nicht ganz zutreffend als »Satz des Widerspruchs« bezeichnet wird: Zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Urteile, – z.B. diese Figur ist ein Kreis – diese Figur ist kein Kreis – können unmöglich beide wahr sein, aus der Wahrheit des einen folgt mit zwingender Notwendigkeit die Falschheit des anderen. Da hieran nicht zu rütteln ist, so folgt für unseren Fall: es können in Beurteilung des Erdkörpers oder der Erdfläche kontradiktorische Urteile überhaupt gar nicht vorgelegen haben.
Nämlich rein geometrisch aufgefaßt. Die Kugel widerspricht nicht durchaus dem Ellipsoid, da sie einen Grenzfall des Ellipsoids vorstellt; und die Ebene bedeutet ebenfalls einen Grenzfall der Kugel, wie auch der Ellipsoidfläche.
Allein hier handelt es sich nicht um rein geometrische Betrachtung, denn die Erde ist doch ein bestimmter Körper, kein in Abstraktion gewonnenes Grenzgebilde. Hier handelt es sich um meßbare Größen von erweislicher Verschiedenheit, und hiernach müßte von zwei kontradiktorischen Streitern der eine die unbedingteWahrheit, der andere die unbedingte Unwahrheit verkünden. Was wiederum nicht zu vereinigen ist mit unserem Ergebnis, daß der mittlere Streiter das eine Mal recht behält und das andere Mal ins Unrecht gerät.
Der logische »Satz des Widerspruchs« löst das Dilemma in der einfachsten Weise: die Wahrheit ist bei keinem, mithin kann aus keinem jener Urteile die Falschheit der anderen erschlossen werden. Wahr ist vielmehr nur das eine, daß in jedem der Urteile die Wahrheit in einer gewissen Dosis vorhanden ist. Auf die Erdfläche bezogen bietet uns die Ebene die Wahrheit in erster, die Kugel in zweiter, das Drehungsellipsoid in dritter Annäherung; vorbehaltlich weiterer Annäherungen, von denen jede folgende zu einem höheren Richtigkeitsgrad aufsteigt, ohne daß es irgend einer gelingen könnte, die wirkliche Wahrheit zu erreichen.
Diese auf den Einzelfall eingestellte Betrachtung läßt sich verallgemeinern und bleibt bestehen, wenn wir sie auf unsere Erfassung der Zustände, Veränderungen, Vorgänge in der Natur ausdehnen. Wenn wir von Naturgesetzen sprechen, so müssen wir uns dessen bewußt bleiben, daß es sich hier um menschliche Denkprozesse handelt, die einem
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