Einstein - Einblicke in Seine Gedankenwelt
wie Galilei einen Kindskopf oder den Intellekt eines Papuanegers. Und in einem fernen Zukunfts-Galilei könnte aus den unendlichen Denkmöglichkeiten eine besondere aufsteigen, die als Gesetz formuliert, zur Beschreibung der Bewegungen besser dient, als unser Trägheitsgesetz von 1638.
Das sind keine leeren Halluzinationen, sondern diese Betrachtungen knüpfen an wissenschaftliche Geschehnisse an, die wir im zwanzigsten Jahrhundert erlebt haben. Die Newton'sche Gleichung, welche das Gesetz der Attraktion darstellt, ist zweifellos ein Muster der Einfachheit, und an seiner Genauigkeit zu zweifeln, wäre vor einem Menschenalter keinem Denkenden eingefallen.
Mit dem faßlichen Ausdruckwird eine anscheinend für alle Ewigkeit gültige Gesetzeswahrheit hingestellt. In diesem Ausdruck bedeutet k die Gravitationskonstante, also eine im ganzen Universum unveränderliche Größe, m und m' zwei durch Anziehung aufeinander wirkende Massen und r deren Abstand. Aber über Newton kam Einstein, der nachwies, daß jener Ausdruck nur einen Näherungswert darstellt, der unter allerschärfster Prüfung einen feststellbaren Fehlerrest einschließt. Die von Einstein aufgestellten Gleichungen stellen die vorläufig letzte, vielleicht auf Jahrtausende gültige Annäherung dar. Freilich sind sie sehr kompliziert, in einem System erschreckend langer Differentialgleichungen aufgebaut, und man könnte den fragenden Einwand erheben: wie vertragen sie sich mit Kirchhoffs Forderung, daß die aller einfachste Beschreibung der Bewegungen angestrebt werden muß? Aber der Einwand hält nicht stand, wenn man der Sache auf den Grund geht. Denn die Einfachheit spricht sich keineswegs in der Kürze oder Unschwierigkeit einer Formel aus, vielmehr darin, daß sie die einfachste Beziehung zum Weltganzen behauptet, daß sie unabhängig werde von irgend welchem Bezugssystem. Wenn diese Unabhängigkeit nachgewiesen wird – und für die Einstein'schen Gleichungen ist sie gesichert –, dann verschwindet die Kompliziertheit der Formel gänzlich gegen die übergeordnete Einfachheit und Einheit des vor uns aufsteigenden Weltsystems, das im Lauf der Elektronen wieder fernsten Gestirne von dem einen Grundgesetz der allgemeinen Relativität dirigiert wird. Was aber die andere Forderung betrifft, die nach Vollständigkeit, das heißt nach erschöpfender Genauigkeit, so sind uns hierfür Beweise erbracht worden, die mit Recht das Staunen der Mitwelt erregt haben. Aber wie denn? Sollen wir uns zum Annäherungs-Prinzip allem und jedem gegenüber bekennen? Gibt es denn nicht streng Erweisliches, unbedingt Gültiges in Erkenntnissen, die sich mit der Wahrheit restlos decken?
Man denkt an die mathematischen Lehrsätze, welche, einmal bewiesen, dieselbe Evidenz besitzen wie die Axiome, aus denen sie abgeleitet werden, kraft unmittelbar einleuchtender Logik; weil bei ihnen jeder Zweifel zum blanken Widersinn führen müßte. Die Mathematik, ist gesagt worden: est scientia eorum, qui per se clara sunt, ist die Wissenschaft von dem, was sich von selbst versteht.
Aber auch hier darf sich der Zweifel melden. Wenn uns auch nur ein einziger Fall bekannt würde, in dem die Selbstverständlichkeit zu Schaden kam, so öffnet sich das Tor für weitere Zweifel. Solch ein Fall sollte erörtert werden.
Eine Tangente ist bekanntlich eine gerade Berührungslinie, die an eine Kurve gelegt wird, dergestalt, daß sie mit dieser einen Punkt (besser: zwei unendlich benachbarte Punkte) gemeinsam hat, ohne die Kurve zu schneiden. Einfachster Fall: die Senkrechte auf dem Endpunkt eines Kreis-Radius. Und es stimmt vollkommen mit menschlicher Anschauung, wenn gesagt wird: Jede gebogene Linie, die einen »stetigen« Verlauf zeigt, die sich von Punkt zu Punkt in lückenloser, nirgends sprunghafter Krümmung fortsetzt, besitzt in jedem Punkt eine Tangente. Die Analysis welche die ebenen Kurven als Gleichungen mit zwei Veränderlichen behandelt, findet den Ausdruck für die Richtung der Tangente im Differentialquotienten und erklärt demgemäß: Jede stetige Funktion ist in jedem Punkte differentiierbar. Das eine besagt genau dasselbe, wie das andere, da für jeden Funktionsausdruck ein äquivalentes graphisches Abbild in Kurvenfigur vorhanden sein muß.
Aber in diesem anscheinend elementaren Satz steckt ein Fehler, und dieser Fehler ist erst im Jahre 1875 entdeckt worden. Hunderte von Jahren hat die Kurvenlehre existiert, ohne daß es jemandem eingefallen wäre, die Allgemeingültigkeit jener
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