Einstein - Einblicke in Seine Gedankenwelt
Seite schweben ihm die Erkenntnisse des gewöhnlichen Lebens vor, wo die Wahrnehmungen und Erfahrungen des Alltags in induktiven Methoden und deduktiven Betrachtungen fastunentwirrbar durcheinanderlaufen. Ihnen sind, als im Range übergeordnet, die eigentlich wissenschaftlichen Gebilde entgegenzustellen; das sind solche, in denen eine saubere Isolierung auf gesetzlichen Grundbedingungen gegründeter, im Übrigen logisch deduktiv geordneter Gedankengänge vorliegt. Wenn dieses Loslösen rein logisch geordneter Erkenntnis von den sinnlichen Erkenntnisquellen gelingt, dann hat die betreffende Wissenschaft den Charakter der Mathematik, und ihr Wahrheitsgehalt wird sich hiernach nach dem von Kant geforderten Wertmaß bestimmen. Nur fordert Kant zuviel, wenn er verlangt, daß wir dieses Maß an die gesamte uns erreichbare Naturkunde anlegen. Sofern jener Ausspruch ein Regulativ enthält, wird eine Einschränkung angezeigt sein: ein großer Teil der organischen, biologischen Wissenschaften wird auch ferner außerhalb der rein mathematischen Betrachtungen ihr Heil finden müssen.
Ihre Erwägungen, Herr Professor, wären dann wohl auf das Wort des Galilei auszudehnen: Das Buch der Natur liegt aufgeschlagen vor uns, aber es ist in anderen Lettern geschrieben, als unser Alphabet; seine Buchstaben heißen Dreiecke, Vierecke, Kreise, Kugeln.
– Die Schönheit des Spruchs in allen Ehren; allein seine restlose Gültigkeit bezweifle ich allerdings. Wollte man ihn bedingungslos anerkennen, so müßte man die Wege aller Erforschung als ausschließlich mathematische bezeichnen, und damit würde man sehr wichtige Möglichkeiten ausschließen, vor allem gewisse Formen der Intuition, die sich als höchst fruchtbar erwiesen haben. So wäre für Goethe das Buch der Natur nach Galileis Deutung unlesbar geblieben; denn sein Geist war gänzlich unmathematisch, ja sogar antimathematisch gerichtet. Aber er besaß eine besondere Form der Intuition, die sich bei ihm offenbarte als eine unmittelbare Einfühlung in die Natur, und in ihrem Buch fand er sich besser zurecht als mancher Exaktforscher.
Sind denn die intuitiven Begabungen nach Formen und Arten überhaupt trennbar?
– Es wäre pedantisch, hier eine prinzipielle Unterscheidung durchführen zu wollen, wenn man auch den besonderen Fall der nicht-mathematischen Intuition Goethes als einen hervorstechenden nennen darf. Im übrigen liegen, wie ich schon öfter betonte, sämtliche große Wissenschaftstaten in der intuitiven Erkenntnis, nämlich der Axiome, aus denen alsdann deduktiv geschlossen wird. Die Gewinnung solcher Grundsätzlichkeiten ist nur möglich auf Grund einer sicheren Übersicht über noch nicht logischgeordnete Gedankenkomplexe. Allgemein genommen bildet also die Intuition die Voraussetzung für das Auffinden solcher Axiome, und es ist nicht zu leugnen, daß diese Intuition in überwiegender Mehrzahl bei den mathematisch gerichteten Intelligenzen als Kennzeichen der Schöpferkraft anzutreffen war.
Aus dem, was Sie soeben entwickeln, scheint hervorzugehen, daß Sie die Deduktion für erheblich wertvoller halten als die Induktion. Ich drücke mich da vielleicht etwas ungenau aus, indem ich nur die Stichworte hervorhebe – aber ich meine doch, daß auch auf induktiven Wegen herrliche Errungenschaften zu Tage getreten sind.
– Stellen wir erst einmal durch Definition fest, was mit den Worten gemeint ist: Deduktion ist die Ableitung des Besonderen aus dem Allgemeinen, Induktion die Erschließung eines Allgemeinen aus dem Einzelnen. Und nun nennen Sie mir irgendein Beispiel einer herrlichen Errungenschaft, wie sie Ihnen vorschwebt als Probe für die Gewalt der induktiven Methode. Wie auch Ihr Beispiel beschaffen sein mag, Sie werden alsbald den Bedeutungsunterschied gewahr werden.
Also für mich liegt das schönste Beispiel, das unübertreffliche Muster einer Induktion in einem Ergebnis des Euklid. Die Frage war: ist die Anzahl aller Primzahlen (der durch keine andere Zahl außer der Einheit ohne Rest teilbaren Zahlen) endlich oder unendlich? Euklides fand den eleganten Beweis für deren Unendlichkeit durch folgende streng induktive Überlegung: Wäre die Zahl endlich, so müßte es eine »größte« Primzahl geben. Wir nennen sie n und bilden das Produkt aller Primzahlen bis n, plus 1, also 2×3×5×7×11×13× usw. bis n, das ganze vermehrt um 1. Diese neue Zahl, Y genannt, ist sicherlich größer als n, und nun bestehen für Y zwei Möglichkeiten: entweder Y ist Primzahl
Weitere Kostenlose Bücher