Einstein - Einblicke in Seine Gedankenwelt
Veränderung, deren Besonderheiten in der Maximalnähe, er legte damit, lange vor Newton und Leibniz, den Grundstein zur Infinitesimalrechnung, die weiterhin Stern und Kern der Mathematik, der Astronomie, der theoretischen Physik, der auf mechanischen Beziehungen fußenden Technik geworden ist.
Wenn dreihundert Jahre später Einstein seine Differentialgleichungen und mit ihnen ein neues Weltsystem entwickelt, so steht er als der reine Erkenner vor uns, abseits aller praktischen Zweckdienlichkeit. Aber in diesen Gleichungen stecken Elemente der Analysis, die sich einstmals in einem freundlichen Idyll entbanden; nicht der grauen Abstraktion fiel die erste Patenschaft zu, sondern einer irdischen Lebensfreude, als ein Lichtstrahl in Keplers düsteres Dasein fiel. Noch hat sich kein Dichter gefunden, der diesen Zusammenhang zu einer sangbaren Ballade ausgearbeitet hätte: wie die Wahrheit, das einzige Leitziel der Wissenschaft, aus der Traube gekeltert wurde, und wie die zweckdienliche Praxis, die von der Fragestellung eines Küfers ausging, in eine Theorie mündete, die bis zu den Grenzen des Weltalls reicht.
II.
Es war die Rede von lapidaren Worten, von Schrift in Felsen, insonderheit von einem Ausdruck Kants, der den Schluß- und Grundpunkt des Wissens erfassen will. In jeder Naturwissenschaft, so hatte der Königsberger Philosoph gesagt, »steckt soviel Wahrheit als Mathematik in ihr enthalten ist.« Und da die Natur letzten Endes alles umspannt, eine Abzirkelung von Real- und Geisteswissenschaft nicht mehr durchführbar erscheint, so wird man im Sinne Kants das Maß der Mathematik als das Maß der Wissenschaft überhaupt anzusprechen haben.
Freilich, mit dem Historiker, Juristen, Mediziner dürfte man sich über das Thema nicht unterhalten, vorläufig noch nicht. Sie hätten ein Recht, es abzulehnen, weil ja in ihren Fächern die Orientierung nach »Wahrheit« nicht den alleinigen Ausschlag gibt, und weil vollends zurzeit gar nicht abzusehen ist, wie der Begriff einer durchgreifenden mathematischen Wahrheit in ihren Disziplinen platzfinden könnte. Aber wenn man einen Physikerbefragt, der sich unausgesetzt der Mathematik als seines wesentlichen Rüstzeuges bedient, so sollte man eigentlich rückhaltlose Zustimmung erwarten. Wenigstens wäre ich nicht überrascht gewesen, wenn ich diese bei Einstein angetroffen hätte, mit Inanspruchnahme jenes Wortes für den ganzen Umkreis aller Naturkunde.
Allein Einstein ließ den Ausspruch Kants nur mit gewissen Einschränkungen gelten; so zwar, daß er ihn im Prinzip als begründet zugab, aber nicht als unbedingt durchgreifend. Er erkennt also die Souveränität der Mathematik als Alleinbestimmerin aller Wahrheitsgehalte nicht an.
Die Überlegenheit der Mathematik, sagte Einstein, gründet sich auf sehr einfache Voraussetzungen, sie wurzelt im Begriff der Größenlehre selbst. Ihre Machtstellung beruht darauf, daß sie gegenüber den unendlich mannigfachen Möglichkeiten eine außerordentlich viel feinere Unterscheidungsfähigkeit gewährt, als jedes sonstige Denken, das sich in Sprache kundgibt und auf Worthilfe angewiesen bleibt. Je größer man das Betrachtungsfeld wählt, um so klarer tritt dies hervor; aber schon auf einem so engen Bezirk wie etwa 1 bis 100 ist irgend eine Festlegung, zum Beispiel auf 27, unvergleichlich viel genauer als jede Wort-Festsetzung. Man denke an eine Empfindungsreihe von Lust bis Schmerz, von süß bis bitter, so bleiben wir mit Worten im Unbestimmten, Verschwommenen, und es gelingt uns nicht, einen Punkt der Reihe mit der Präzision jener 27 herauszuheben. Wo aber die Größenlehre mitredet, wie z.B. in einer Tonreihe, deren Schwingungen eine mathematische Ordnung aufzeigen, da erreichen wir sogleich durch Zahlfestsetzung einen weit höheren Grad der Sicherheit und wissenschaftlicher Genauigkeit ...
In der Tonreihe, dachte ich ergänzend, tritt deshalb eine Art von wissenschaftlicher Beglückung auf. »Musik ist die Lust der Menschenseele, welche zählt, ohne zu wissen, daß sie zählt«. (Leibniz). Hier bewahrheitet sich das pythagoreische »die Zahl ist das Wesen aller Dinge«. Sobald wir in die Lage kommen, die Zahl psychologisch als etwas wesentliches zu empfinden, geraten wir in ein Reich der Entzückung, weil im Unterbewußtsein nicht nur die sinnliche Erregung, sondern die Wahrheit zur Geltung kommt.
Einstein fuhr fort: Kant trifft also insofern das Richtige, als sein Wort zweierlei Dinge in klaren Gegensatz stellt. Auf der einen
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