Einundzwanzigster Juli
sich weigern, das Haus zu verlassen. »Ich kann sie nicht hinauswerfen«, sagt Omama, »es sind doch Kinder dabei, und insgesamt haben sie sich anständig betragen in dieser schlimmen Zeit.«
Das ganze Dorf hat Omama verteidigt, als es in den letzten Kriegstagen hieß, sie solle noch »fortgebracht« werden. Einige zapften die Telefonleitung an, um entsprechende Anordnungen der Gestapo abzufangen, andere bewachten nachts zusammen mit französischen Kriegsgefangenen das Schloss. Kriegsgefangene waren es auch, die den Franzosen entgegen gingen und diese dazu bewegten, Lautlitz bei ihrem Vormarsch zu umgehen.
Aber in den Wäldern tobten bis zuletzt erbitterte Kämpfe und wer im Dorf die weiße Fahne hisste, wurde erschossen. »Paul Schneeberger, Siegfried Toblach, Walter Krems.« Omama wird noch in der Erinnerung ganz blass. »Ich habe sie gottlob nicht gesehen, aber ihre Leichen sollen tagelang zur Abschreckung auf dem Marktplatz gehangen haben.«
Als die Franzosen den Ort übernahmen, wurde ein Lazarett eingerichtet, wehte eine Rotkreuzfahne auf dem Schlossdach undempfing Omama den Kommandanten in ihrem Ankleidezimmer zwischen Toilettentisch und Kleiderschrank. Als weitere, grimmiger gestimmte Truppenteile nachrückten, suchten fast siebenhundert Menschen im Keller des Schlosses Schutz vor Plünderungen und Gewalt.
»Und dann kehrte Ruhe ein und ich fing wieder an, auf euch zu warten«, sagt Omama und in ihr Lächeln stiehlt sich für Augenblicke eine so tiefe Traurigkeit, dass Nelly aufsteht und auf die Terrasse geht.
Wir sitzen im Esszimmer, das Omama schon zurückerhalten hat, und die ganze Zeit, während wir Tee tranken und erzählten, habe ich vermieden, Nelly anzusehen.
Dabei muss mir niemand etwas erklären. Ich weiß, wie man sich fühlt, wenn die Gefahr vorüber ist und man wieder zum Denken kommt. Ich weiß so gut, wie Nelly sich fühlen muss, dass ich am liebsten aufspringen und hinter ihr herrennen würde.
Aber um was zu sagen ...? Ich weiß doch auch, dass man weder Lust noch Kraft hat, mit jemandem zu reden.
»Lasst sie einfach in Ruhe!«, flüstert Tante Josi uns zu. »Sie kommt gleich zurück.«
Markus ist lange vor uns allen zu Hause angekommen. Er und die anderen vier, die auf den Fußmarsch von Dachau gezwungen worden waren, fanden sich eines Morgens ohne ihre Wachen wieder, die selbst das Weite gesucht hatten! In Geppingen traf Markus glücklich auf Onkel Jasper, Tante Helma und Tante Josi, bevor diese Ende Mai zurück nach Lautlitz durfte.
»Josi hat mir von Lexi erzählt«, sagt Omama still. »Ich habe zwei Söhne, eine Schwiegertochter und meinen Bruder verloren, aber weinen muss ich nun um Max. Alle anderen sind bei Gott ...«
Ich sitze wie erstarrt. Wir haben von Max noch nicht gesprochen, denke ich, sie weiß es ja noch gar nicht!
Ich sehe, wie Mutter mir einen Blick zuwirft: Lass mich das machen ...
Und auf einmal halte ich es nicht mehr aus, allen guten Vorsätzen zum Trotz. Jetzt sind wir schon zwei auf der Terrasse.
»Ach«, murmelt Nelly, in eine Qualmwolke gehüllt, »das Geburtstagskind! «
In Wirklichkeit, vermuteten wir, ging es nicht um Erholung, auch wenn sie uns das glauben machen wollten. Die Amerikaner schickten uns nach Capri, weil sie überprüfen wollten, wen sie eigentlich befreit hatten. Keiner von uns war mehr im Besitz von Papieren, also durfte auch niemand nach Hause.
Es war ein beeindruckender Konvoi. Vierzig amerikanische Limousinen und Jeeps, am Anfang und Ende der Kolonne ein bewaffneter Panzerwagen, bewegten sich langsam den Berg hinab, während Flugzeuge über uns kreisten. Zum Abschied von Prags war der Frühling ausgebrochen, Schmelzwasser rieselte von den Bergen und kleine Bäche schwollen zu Flüssen an und stürzten ins Tal. Wir fuhren südwärts, tiefer ins Land hinein, und welche Ortschaft wir auch durchquerten, es hingen italienische Fahnen an den Häusern und standen lachende, palavernde Menschen auf den Straßen. Ganz Italien befand sich im Glücksrausch. Zwei Tage zuvor war mit der Unterzeichnung der deutschen Kapitulationserklärung das Kriegsende endlich auch offiziell besiegelt worden.
Die amerikanischen Soldaten ließen sich von der allgemeinen Begeisterung anstecken, obwohl für ihr Land der Krieg im Pazifik weiterging. Eifrig liefen sie, bevor sie uns an die offiziellen Stellen in Neapel übergaben, mit Notizbüchern von einem zum anderen und sammelten Autogramme. »Are you a countess?« – »Are you a prince ?«
Im Hotel in
Weitere Kostenlose Bücher