Einundzwanzigster Juli
einem halben Jahr kam keine Post mehr.«
Als wir am Morgen von unserem Strohlager aufstanden, war er bereits weg. Unterwegs nur, weil er nicht mehr weiß wohin.
»Hast du einen Geburtstagswunsch?«, fragt Mutter und hält mir die Kerze zum Ausblasen hin.
Ihre Augen bitten, Inas auch. »Ich habe mehrere Wünsche«, bekenne ich. »Aber keinen einzigen, für den ich eine Kerze aus blasen möchte.«
Richtige Antwort! Beide lächeln.
In Ebingen wehen französische Fahnen und an den Straßenschildern hängen Wegweiser zum Quartier general und zur Gendarmerie. Die französischen Soldaten sind älter und blicken härter und misstrauischer als die Amerikaner, die uns, nachdem sie am frühen Morgen des 3. Mai am Pragser Wildsee eingetroffen waren, mit ihrer Gelassenheit schier überwältigt hatten. Es fiel kein einziges lautes Wort. Gelassen entwaffneten sie unsere eigentlichen Befreier, Hauptmann von Alvensleben und seine Kompanie, und führten sie in die Gefangenschaft. Gelassen bauten sie anschließend ein Volleyballnetz, eine Feldküche und eine mobile Badeanstalt in zwei großen Zelten auf und verschenkten Handtücher.
Die französischen Soldaten sehen aus, als käme ihnen bei unserem Anblick anderes in den Sinn: Hitlers Triumphzug durch Paris vielleicht, oder brennende Dörfer in der Normandie. Alle paar Schritte will jemand den Passierschein sehen. Die Ebinger huschen mit gesenkten Köpfen vorbei und scheinen es eilig zu haben, von der Straße zu kommen.
Direkt in der Stadtmitte klafft, was der Bombenangriff im letzten Sommer vom Marktplatz und den umliegenden Häusern übrig gelassen hat. Ich sehe mich auf der Wiese im Schlossgarten liegen und in der Zeitung davon lesen. Der Morgen, an dem Lexi nach Berlin zurückgeflogen war. Der Morgen, an dem sie mir ihr Versprechen gegeben hatte ...
Verdammt, denke ich. Wir sind noch nicht einmal in Lautlitz und schon geht es los!
Ich weiß, dass das Herz ein Muskel ist und nicht brechen kann. Aber etwas bricht, sobald ich an meine Erinnerungen rühre; bricht und strahlt aus in Arme und Beine, bis ich mich kaum noch bewegen kann. Alles tut weh.
»Frau Gräfin!«, schreit plötzlich jemand.
Eine ältere Frau lässt alle Vorsicht vor den Soldaten fahren. Mit ihrer Einkaufstasche rennt sie über die Straße auf uns zu.
»Frau Bangel! « Ina wird blass. »Zu Ihnen wollte ich gerade!«
Die Frau scheint schon zu wissen, warum. »Alles in Ordnung!«, ruft sie, noch bevor sie uns erreicht hat. »Sie sind zurück! Alle sieben Kleinen und Gräfin Nelly!«
»Alle sieben Kleinen«, wiederholt Ina und Mutter kann sie gerade noch auffangen, bevor ihre Beine nachgeben. »Alle sieben Kleinen?«
Zu dritt sitzen wir auf der Straße, Ina und Mutter liegen sich in den Armen. »Gräfin Josefine hat sie geholt«, erzählt Frau Bangel und heult vor Freude gleich mit. »Sie und die Kinder der Hofackers und Goerdelers, in einem alten Bus von den Franzosen. Drei Tage später wären die Russen da gewesen!«
Ich glaube, die letzten Kilometer müssen wir geflogen sein.
Das Haus von Onkel Yps am Ortseingang, mit wucherndem Rasen und verwilderten Beeten. Die Dorfstraße mit den Fahnen der Besatzer, die Abzweigung zum Wanderweg, das Gasthaus. Onkel Yps war an dem Tag hierhergekommen, um die Nachrichten zu hören, da es im Schloss keinen Volksempfänger gab ...
Die Hände, die sich uns entgegenstrecken. Die seligen Gesichter. Die Schritte derer, die zusammenlaufen.
Die Riesenschritte, mit denen Guntram und Konstantin, Eckhardt, Leopold, Carolin und Marie über die Wiese springen! Jemand muss vorausgeeilt sein, um Bescheid zu geben, denn als wir durchs Schlossportal treten, rennen sie uns schon entgegen.
Ina, die mit ihren Kindern im Gras rollt. Omama, und Tante Josi im wehenden Ordenskleid. Wie konnte ich nur daran zweifeln, dass dies der Ort ist? Noch bevor ich in ihre offenen Arme laufe, weiß ich, dass jede Sekunde der letzten zehn Monate den Moment schon geatmet hat.
Überstanden ... überlebt ... zu Hause.
Durch die Vorhänge am offenen Fenster geht kaum merklich ein Wehen. Draußen herrscht Stille, als hielte alles, was lebt, die Luft an. Die Sonne berührt schon die Hügel und wirft einen langen Schatten, in den sich die ersten Dächer des Dorfes schmiegen; die Westseite des Schlosses liegt in einem letzten Streifen Licht ...
Nein, mein altes Zimmer kann ich nicht mehr haben. Die oberen Stockwerke sind noch von den Familien mittlerweile verhafteter Gestapo-Männer bewohnt, die
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