Einundzwanzigster Juli
hingehst, will ich hingehen, und so weiter, du weißt schon. Von mir aus auch Lautlitz. Ich bin so froh, dass wir einander noch haben!«
»Dann gibt es nichts, was wir nicht schaffen können, Fritzi«, sagt meine Mutter leise.
Ich finde ihn natürlich beim Holzhacken – an praktischen Tätigkeiten, erklärte Max, als wir uns für die Arbeit einteilen ließen, sei es das Einzige, was er mittlerweile mit einer gewissen Zuverlässigkeit beherrsche. Als ich um die Ecke biege, ist er gerade dabei, ein neues Pflaster in seine Handfläche zu kleben.
Lexis liebster Schatz. Ich hebe meinen Verband hoch und grinse. Schlimm?, lese ich ihm von den Augen ab.
Ja, und bei dir?
Er lächelt. Es ist so einfach. In wenigen Schritten bin ich bei ihm. Suche nicht mehr nach Worten, die es nicht gibt. Finde den Zauberspruch.
»Auftrag von Lexi«, flüstere ich.
Jetzt können die Amerikaner kommen.
A CHTZEHN
Zum Entzünden einer Geburtstagskerze mag das verlassene Gleisbett der Deutschen Reichsbahn ein ungewöhnlicher Ort sein, aber genau hier befinden wir uns am 21. Juni 1945 um elf Uhr zwanzig: dem Tag und der Stunde, in der ich fünfzehn werde. Irgendwo zwischen Sigmaringen und Lautlitz, viele Kilometer schon entfernt von München, wo wir in der Vorwoche aufgebrochen sind, und zwei Tage nur von meinem nächsten Jubiläum – der Flucht aus Oschgau. On the road, wie die Amerikaner sagen würden. Überhaupt habe ich eine Menge wichtiger amerikanischer Begriffe gelernt in den letzten sechs Wochen. Field kitchen. Personal documents. Displaced persons.
Die Kerze hat Mutter aus dem Hotel in Capri mitgehen lassen, Streichhölzer und Zigaretten haben wir gesammelt, wo immer sie verteilt wurden (Amerikaner sind sehr großzügig). Wir sind ein wandelnder Tauschladen, meint Ina.
»Viel Glück und viel Segen«, singen sie für mich – ein wenig heiser, denn die Sonne brennt von einem wolkenlosen Himmel und der letzte Schatten liegt etliche Kilometer zurück. Zu dumm, wenn man von Hügeln und Wäldern umgeben ist, die Bahngleise, an denen wir uns orientieren, aber meist durch die Wiesen führen. Oder durch Tunnel! Ins Schwarze hinein, die Füße im Nichts und die Hände an der Wand, bis man nach endlosen, herzklopfenden Minuten einen winzigen Lichtfleck entdeckt.
In den ersten Tagen sind wir auf der Landstraße geblieben und ließen uns von Fuhrwerken und einigen wenigen Autos mitnehmen, die vorbeikamen; seit Sigmaringen laufen wir die Bahnstrecke entlang und können Lautlitz nun nicht mehr verfehlen. In denkleinen Orten, an denen die Bahn hielt, als sie noch fuhr, können wir einkaufen und finden um den Preis von Zigaretten und Chewing gum auch ein Nachtlager.
Fünfzehn!, denke ich. Ein Meter sechsundfünfzig (die Amerikaner haben mich gemessen und gewogen), achtunddreißig Kilo (vielleicht sind es jetzt schon ein paar mehr), drei Katastrophen (Fabian, Piotr, Lexi), zwei Befreiungen (Deutsche Wehrmacht, 85. Division der 5. US Army). Und noch etwa acht Kilometer zu laufen bis zu dem Augenblick, den wir seit über zehn Monaten herbeisehnen und fürchten!
»Almut«, sagt Ina mit einem Mal, »lass uns erst nach Ebingen gehen. Ich kann nicht nach Lautlitz, ohne zu wissen, ob die Kinder noch leben.«
»Das machen wir«, antwortet Mutter sanft. »Ich wollte es auch schon vorschlagen«, behauptet sie, was nicht stimmen kann, denn seit wir unterwegs sind, steht ihr das Wort Lau tlitz praktisch auf die Stirn geschrieben. Aber Ina scheint sich gleich etwas besser zu fühlen.
Natürlich haben wir während der sechs Wochen, in denen die Amerikaner uns erst in Capri, dann in einem Camp in Frankreich festhielten, versucht, etwas über den Rest der Familie herauszufinden oder ein Lebenszeichen von uns selbst zu senden. Doch zwecklos, die Post- und Telefonverbindungen in Deutschland sind vollständig zusammengebrochen. Von dem Heim, in dem Lexi die Kinder aufgespürt hatte, wissen wir nur, dass es jetzt in der »sowjetisch besetzten Zone« liegt – was immer das heißt. Ich habe bisher nur so viel verstanden, als dass man in Deutschland nicht mehr überallhin darf. Selbst für Lautlitz mussten wir einen Passierschein beantragen.
Wie wir sind jetzt viele unterwegs: Flüchtlinge aus dem Osten, Heimkehrer in zerrissener Uniform, Gestrandete. In unserer letzten Herberge trafen wir einen Soldaten, der soeben erfahren hatte, dass seine ganze Familie tot und ihre Wohnung ausgebombt war.
»Ich hab’s eigentlich schon gewusst«, sagte er. »Seit
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