Einzelstücke - Möller, M: Einzelstücke
Idiot.
Der Schmerz ist unerträglich.
Mein Herz hat mittlerweile aufgehört zu schlagen. Ich löse eine Hand vom Eisengeländer und ziehe das Handy aus meiner Jeanstasche. Als ich mit den Fingern über das Display fahre und Moritz’ Namen tippe, schwankt mein Körper wie ein Fähnchen im Wind.
Nur noch einmal seine Stimme hören.
Gute Idee?
Gute Idee.
Mein Finger hebt sich.
Ich könnte aber auch einfach springen.
Das alles hinter mir lassen.
Es ist ganz einfach.
Ich muss nur das Geländer loslassen.
Loslassen, statt festzuhalten.
Loslassen.
Meine Finger lockern sich.
Die Entscheidung ist gefallen.
In dem Moment klingelt es an meiner Wohnungstür.
Es klingelt!
Haben Sie schon mal versucht, sich von Ihrem Balkon zu stürzen, und dann klingelt es just in dem Moment, als mehr fürs Loslassen als fürs Festhalten spricht, an Ihrer Wohnungstür? Wie soll ich sagen, das irritiert den Ablauf schon etwas.
Hmm.
Etwas verwirrt starre ich auf die Dachziegel des gegenüberliegenden Hauses und frage mich, was jetzt zu tun ist. Schließlich klettere ich wieder über das Geländer des Balkons und wate durch meine Wohnung, um das erneute, immer penetrantere Klingeln endlich abzustellen.
»Frau Sondtheim! Was machen Sie denn hier?«
Meine Nachbarin sieht mich mit ernster Miene an.
»Ich habe ein Problem!«
»Oh. Ich auch. Wollen Sie mit auf den Balkon?«
»Was reden Sie denn da? Nu kommen Sie schon mit.«
Mit großen Schritten marschiert Frau Sondtheim bereits dieTreppe hinunter. Ich ziehe die Tür hinter mir zu und folge ihr äußerst widerwillig die Stufen hinab.
»Und worum geht’s?«, frage ich ihren Hinterkopf.
»Sie haben mit Ihrer lächerlichen Aktion gestern tatsächlich meine Geranien zertrampelt. Ich habe mir gestattet, neue zu kaufen, die Sie jetzt gefälligst einpflanzen werden.«
Schlagartig bleibe ich im Treppenhaus stehen.
»Das werde ich ganz sicher nicht. Hören Sie, Frau Sondtheim, ich habe im Moment wirklich nicht den Nerv für Ihr Grünzeug.«
Frau Sondtheim bremst ebenfalls ihren beherrschten Gang und dreht sich zu mir um. »Gut, dann werde ich eben Ihren Nachbarn damit belästigen.«
Verdammt.
Das kann ich Tim nun nicht auch noch antun. Als Antwort setze ich meinen Gang die Stufen hinab fort.
»Na also, Fräulein Lenartz, es geht doch.«
*
In der Wohnung im Parterre angekommen, lässt Frau Sondtheim mich erst einmal in ihrem Flur stehen.
»Warten Sie hier, ich besorge Ihnen, was zum Ein- und Auspflanzen nötig ist.« Sie verschwindet in Richtung Garten, während ich den edlen Garderobenständer neben der Eingangstür beäuge. Ich war noch niemals in der Wohnung meiner Nachbarin und erst recht nicht allein. Die Versuchung ist groß, mich hier ein bisschen umzusehen, ein paar Türen aufzustoßen oder an ein, zwei Schubladen zu ziehen. Wahrscheinlich würde ich hier und da auch verlorengegangene Post von mir finden oder die Ausgaben der Gala, die irgendwie nie zugestellt wurden. Neugierig laufe ich den Flur entlang, mitdem Blick die Inneneinrichtung aufsaugend, als ich Geräusche aus dem hintern Teil der Wohnung höre. Im Wohnzimmer flackert der Flachbildfernseher an der Wand. Ich bleibe wie angewurzelt davor stehen. Meine Finger umklammern die Lehne des Sofas vor mir, damit ich nicht umkippe. Frau Sondtheim guckt gerade die neueste Ausgabe von Solokitchen – Gutes Essen braucht keinen Mann .
Guckt denn jeder auf diesem gottverdammten Planeten diese schwachsinnige Sendung?
Susan Winter zieht gerade irgendwelche Soufflés aus dem Backofen und drapiert frische Himbeeren daneben. Mir wird schwindelig.
»Frau Sondtheim?«, flüstere ich, ohne den Blick vom Fernseher wenden zu können, »Frau Sondtheim, wo sind Sie denn?«
Susan Winter nimmt sich die Kochschürze ab und setzt sich auf das Sofa, auf dem ich Susan einst interviewt habe, und schlägt ihre wunderschönen langen Beine übereinander. Sie lächelt umwerfend in die Kamera, wirft ihr Haar in den Nacken und verkündet:
»So, meine lieben Damen, ich hoffe, es hat Ihnen mal wieder gefallen. Aufpassen beim Soufflé, nicht zu früh rausholen, sonst klappt es Ihnen zusammen. Und nun viel Spaß beim Kochen! Ach, und bevor ich es vergesse. Wissen Sie, wer sich getrennt hat?! …« Susan macht eine lange Pause. Sie presst die Lippen aufeinander und lächelt wehmütig, bis sie meint: »Mein Mann und ich.«
*
»Frau Sondtheim? Frau Sondtheim, wo stecken Sie denn?«, hauche ich ohne Stimme. Die Worte von Susan Winter hallen
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