Eis und Wasser, Wasser und Eis
Aufschluchzen war, dass sie kurz davor war, in Tränen auszubrechen, doch rasch stand sie auf und reckte sich. Blödsinn. Warum sollte sie wegen einer Ein-Zimmer-Wohnung in Landskrona Tränen vergießen? Eine Ein-Zimmer-Wohnung, in der sie vielleicht – aber nur vielleicht! – ein paarmal im Jahr wohnte. Sie dachte ja nicht daran, eine Landratte zu werden. Alles Mögliche konnte passieren, nur das nicht. Den größten Teil des Jahres würde diese Wohnung leerstehen, unbewohnt, mit zugezogenen Jalousien, und der Staub würde fallen, still und leise wie der erste Schnee …
Wie lange war es her, dass sie ein Zuhause gehabt hatte? Oder auch nur ein Zimmer, das sie ihr Eigen nennen konnte?
Während ihrer Funkerausbildung. In Kalmar. Vor achtzehn Jahren. Oder siebzehn.
Es war ein ganz hübsches kleines Zimmer im Erdgeschoss einer alten Villa gewesen. Mit eigenem Eingang. Nett möbliert mit zwei Sesseln und einem kleinen runden Couchtisch. Plus einem merkwürdigen Schreibtisch, hochklappbar, sodass man ihn in einen Schrank verwandeln konnte, wenn man verbergen wollte, dass man lernte. Und dann ein Bett, bequemer als alle anderen Betten, die sie je gehabt hatte, ein Bett, in dem sie den ganzen ersten Sonntag verschlafen hatte … Ja. So war es gewesen. Sie war erst gegen vier Uhr nachmittags aufgewacht, und das war nicht unbemerkt geblieben, wie ihr klar wurde, als ein kleiner Junge durch den Garten lief, sobald sie das Rollo hochzog, und rief: Mama, das Mädchen ist jetzt wach!
Und das war sie. Hellwach. Eine vollkommen andere Person als die, die am Abend zuvor eingeschlafen war. Ein neuer Mensch, der alles Alte vergessen hatte, einer, der sich an Lydia, Inez und Björn nur als Figuren in einer Geschichte erinnerte, von diffusem Aussehen und Charakter, eine Person, die außerdem ahnte, dass es früher einmal einen Vater in derselben Geschichte gegeben hatte, sich jetzt aber nicht mehr so recht erinnern konnte, wie er ausgesehen hatte, wie er hieß oder wohin er verschwunden war. Selbst Jörgen hatte sich verwandelt, während sie schlief. Er war nicht mehr der große Schmerz in ihrem Leben, nicht der große Verräter, nicht einmal ein Lügner. Er war nur erfunden. Eine Fantasiefigur. Zur Hälfte von sich selbst und zur Hälfte von ihr erfunden. Es lohnte sich gar nicht, an ihn zu denken. Sie würde vergessen, dass sie bereits am Tag nach den Geschehnissen im Park versucht hatte, seine Adresse herauszufinden, dass sie ihn anrufen oder ihm schreiben wollte, ihm erzählen, dass ihr Vater tot war, dass er bereits tot gewesen war, als sie einander in die Arme gefallen waren, auch wenn sie das eigentlich nicht wirklich gemacht hatten. Aber es gab keinen Studenten an der medizinischen Fakultät in Lund mit Namen Jörgen, wie ihr eine Sekretärin ziemlich schnippisch erklärte. Nicht einen einzigen. Und im Telefonbuch von Landskrona gab es nur drei Vilhelmssons, einen Busfahrer, eine Witwe und einen Studienrat, aber keiner von ihnen hatte jemals etwas von einem Jörgen gehört, das versicherte die Witwe ziemlich spitz, der Busfahrer gleichgültig und der Studienrat mit einem Hauch von Neugier in der Stimme. Erst im vierten Monat, als ihr Bauch allmählich zu sehen, die Verzweiflung vollkommen war und die Stunde für das Geständnis und die Bestrafung sich näherte, erhielt sie Antwort auf ihre Fragen. Da hatte sie einen Schultag geschwänzt und den Zug nach Lund genommen. Das war ein unerhörtes Vergehen, aber notwendig, und ein Vergehen, das trotz allem eine Spur von Erleichterung enthielt, da sie wusste, dass alles ans Licht käme, wenn sie entdeckt werden würde. Sie war stundenlang in den Straßen herumgelaufen, in fremden Straßen mit Häusern, die sie nie zuvor gesehen hatte, und hatte fremde Menschen angesehen, bis sie plötzlich ein bekanntes Gesicht entdeckte. Abrupt blieb sie stehen und versuchte zu begreifen, was sie da sah. Jörgen? Das war doch Jörgen! Aber er stand an einem Ort, wo sie nicht erwartet hatte, ihn zu sehen. Hinter dem Tresen in einem Herrenausstattungsgeschäft. Ein Herrenausstatter, der auch noch Vilhelmsson & Sohn hieß.
Mittlerweile, nach all den Jahren, sah sie sich selbst wie eine Comicfigur, wie sie draußen vor diesem Schaufenster stand, eine glotzende Comicfigur mit aufgerissenem Mund und einer Sprechblase über dem Kopf. »PAFF!«, stand in der Blase. Wie immer in einem Comic, wenn die Träume einer Figur zerplatzten. Aber diese Comicfigur war sich nicht bewusst, dass sie eine Comicfigur
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