Eis und Wasser, Wasser und Eis
etwas, das auf einfachem Wissen aufbaut. Auf Mechanik. Ein Monteursjob.«
Sandström stand auf und sammelte seine Papiere ein. Anders saß immer noch reglos da und sah ihn an.
»Ich bin mir schon bewusst, dass die Psychiatrie kein so hohes Ansehen unter den jungen Medizinern hat«, fuhr Sandström fort. »Aber ich weiß auch, dass es ein Zweig ist, der nicht nur mechanische Kenntnisse erfordert. Sondern auch Intelligenz. Ziemlich geschärfte Intelligenz.«
Anders ließ einen leisen Laut vernehmen, aber Sandström hob die Hand und bremste ihn so.
»Ich bin mir sicher, dass der junge Herr Doktor eine andere Spezialisierung finden wird. Und von jetzt an ist Fräulein Salomonsson meine Patientin. Ich persönlich bin der Meinung, Sie sollten die Lehrbücher der Psychiatrie noch einmal hervorholen und Ihre Aufmerksamkeit vor allem dem Kapitel über histrionische Persönlichkeitsstörungen widmen.«
Er fegte durch den Raum, legte eine Hand auf die Türklinke, drehte sich dann noch einmal lächelnd um.
»Oder schlicht und einfach den Kapiteln, die von emotional instabilen Persönlichkeiten handeln. Guten Tag.«
Dann öffnete er die Tür und verschwand.
Anders öffnet die Augen und schüttelt sich, wirft einen letzten Blick auf das Kielwasser und das Eis, dreht sich dann um und geht zum Bug. Er muss sich bewegen. Er hat noch nie stillstehen können, wenn er sich an diesen Moment erinnerte. Er hat sich genau genommen niemals gestattet, gründlich darüber nachzudenken, obwohl er so glasklar in seinem Gedächtnis verzeichnet ist, dass er sich ganz deutlich an jedes einzelne Detail erinnern kann. Sandström trug einen hässlichen Schlips unter dem weißen Kittel, einen grauen Vierzigerjahreschlips mit weinroten Streifen, dessen Knoten etwas schief saß, und eine kleine Strähne seines nach hinten gekämmten Haars fiel ihm immer wieder in die Stirn, obwohl er ebenso oft die rechte Hand hob und sie zurückstrich. Anders selbst hatte einen Füllfederhalter mit Schildpattmuster in der rechten Hand gehalten, einen sehr schönen Füller von Parker, den er zum Abitur bekommen hatte und der auf irgendeine mysteriöse Art und Weise genau damals verschwand, den er auch nie wiederfinden konnte, obwohl er mehrere Male in den Konferenzraum zurückging und nach ihm suchte. Aber zu seinen Lehrbüchern der Psychiatrie war er nie zurückgekehrt. Im Gegenteil, er gewöhnte sich an, ein verächtliches Lächeln zwar zurückzuhalten, es aber doch in seinem Blick ahnen zu lassen, wenn die Rede auf die Psychiatrie kam. Er war doch nicht Arzt geworden, um sich um jede Menge von Verrückten zu kümmern. Er war Arzt geworden, weil er kranke Menschen heilen wollte. Und deshalb, sagte er sich nach und nach, hatte er sich für die Allgemeinmedizin entschieden. Das passte zu ihm, erklärte er anderen jungen Ärzten. Ein breites Spezialfach. In das in der Zukunft große Summen für die Forschung gesteckt werden würden, davon war er überzeugt, und vielleicht würde er ja …
Nicht intelligent genug!
Das Wort trifft ihn wie eine Ohrfeige, und es trifft ihn so heftig, dass er stehen bleiben und nach Atem ringen muss. Das war es, was Sandström meinte. Dass er dumm war. Bescheuert. Und obwohl Anders niemals, nicht während einer einzigen Millisekunde in all den Jahren, die seitdem vergangen waren, den Gedanken so weit an sich hat herankommen lassen, dass er seine Ruhe stören konnte, ließ er sich doch davon überzeugen. In einem einzigen Augenblick wurde sein gesamtes Selbstbild zerstört, er war nicht mehr Klassenbester, kein begabter Student, kein junger Mediziner mit Forscherambitionen, er war höchstens strebsames Mittelmaß, hatte es mit purem Fleiß geschafft, durch die Arztausbildung zu kommen. Das war der Grund, warum er alle Ambitionen abgelegt hat. Deshalb ist er in der Notaufnahme in Landskrona gelandet. Deshalb ist er dort geblieben. All die Jahre.
Er bleibt an der Treppe zum Vorderdeck stehen, packt das Geländer so fest, dass die Knöchel weiß hervortreten, und holt noch einmal tief Luft. Eva! Gibt es etwas in seinem Leben, an dem sie nicht schuld ist? Ihr gemeinsames Leben huscht vorbei, er sieht sie lachen, er sieht sie mit aufgestütztem Kopf am Küchentisch sitzen und weinen. Er sieht sie voller Wut eine Vase nach ihm werfen, es ist eine schwere Vase, die er von seiner Mutter geerbt hat, und in ihr sind auch noch Blumen, zehn verblühte Tulpen, deren rote Blütenblätter sich von den Stielen lösen und für eine Millisekunde eine
Weitere Kostenlose Bücher