Eis und Wasser, Wasser und Eis
unterschrieben sind. Stell dir vor: Es gibt noch andere Menschen außer dir, die Pläne haben! Wir wollten nach Paris fahren und dort im August heiraten, aber da hast du uns ja einen Strich durch die Rechnung gemacht, indem du einfach verschwunden bist! Oh, Scheiße, sage ich nur! Verdammte Scheiße!!! Eva.«
Anders legt den Kopf schräg, während er liest, und erst nachdem er zu Ende gelesen hat, stellt er fest, dass das die gleiche Haltung ist, die er jedesmal eingenommen hat, wenn er von Eva ausgeschimpft wurde. Fünfundzwanzig Jahre lang hat er mit schräg gelegtem Kopf dagestanden und ihren Wutausbrüchen zugehört.
Er schiebt den Cursor auf die dritte Mail, bleibt dann aber einen Moment einfach so sitzen, ohne sie zu öffnen, bis er den Cursor noch weiter nach oben fahren lässt. Delete. Delete. Delete. So. Jetzt sind sie weg. Alle drei. Jetzt schwebt ihre Wut irgendwo anders herum und wird dort für alle Zeiten schweben, ohne jemals ihr Ziel zu erreichen. Und jetzt wird er auf ihre vierte Mail antworten. Ohne den Kopf schräg zu legen.
Er sitzt noch einen Moment lang reglos da und starrt vor sich hin, dann fängt er an zu schreiben.
»Eva. Tut mir leid, dass es dich so aufgebracht hat, dass ich nicht geantwortet habe. Was die Scheidung betrifft, so habe ich keine Einwände. Leider habe ich keine Papiere diesbezüglich gesehen und weiß deshalb nicht, was ich unterschreiben soll. Jedoch werde ich unverzüglich eine Mail an Jonas Lindberg in Malmö schicken, vielleicht erinnerst du dich noch an ihn. Er hat uns einmal vor zwanzig Jahren besucht, ich meine mich jedoch zu erinnern, dass du ihn nicht mochtest. Aber da er Anwalt und ein alter Freund aus Lund ist, habe ich vor, ihm Vollmacht zu erteilen, die ganze Sache in meinem Namen zu erledigen. Anders.«
Und schon klickt er auf den Button und schickt die Mail ab. Er schließt die Augen und bleibt eine Weile reglos sitzen, versucht etwas zu fühlen. Trauer. Erleichterung. Wut. Aber in ihm herrscht Leere. Er fühlt nichts, außer den leisen Wunsch, die Kabine zu verlassen, an Deck zu gehen und das Eis anzuschauen. Er öffnet die Augen und schaut sich um, blinzelt einige Male.
Ich sehe, denkt er, aber im gleichen Moment ist dieser Gedanke ihm peinlich. Natürlich sieht er. Er hatte immer gute Augen. Und dann steht er auf und versucht nicht darauf zu achten, dass er sich auch leichter fühlt. Viel leichter. Er schaltet einfach den Computer aus, sichert ihn zwischen Stuhl und Tisch, überprüft, dass das Spannseil, das ihn an Ort und Stelle halten soll, auch wirklich richtig sitzt. Dann greift er nach seiner blauen Jacke und geht zur Tür.
Draußen an Deck weht ein kräftiger Wind. Und es nieselt. Anders bleibt an der Tür stehen, zieht sich die Kapuze über den Kopf und schiebt die Hände tief in die Taschen. Es hilft nichts, auch wenn er die Schultern hochzieht und sich vorbeugt. Der Regen trifft ihn wie tausend Eisnadeln an den Wangen, der Wind streicht mit eisiger Hand über die Halsgrube, aber schon bald stellt er fest, dass ihn das gar nicht stört. Die Schultern sinken. Nein. Es stört ihn wirklich überhaupt nicht. Der Regen und die Kälte, die in diesem Moment seine Laune trüben sollten, die existieren gar nicht. Können gar nicht existieren.
Jetzt bin ich frei, denkt er. Endlich.
Trotzdem betrachtet er seinen eigenen Gedanken mit einer gewissen Skepsis. Warum ist er all die Jahre bei ihr geblieben, wenn es das eigentlich ist, was er wollte? Warum wäre er weiterhin bei ihr geblieben, wenn sie nicht gegangen wäre? Denn das wäre er. In einem parallelen Universum, einem der Millionen Universen, die bei jeder menschlichen Entscheidung entstehen, laut seiner eigenen höchst fantasievollen Deutung der Multiversentheorien der Physik, ist sie nicht gegangen. Da sitzen sie in einem Straßencafé in einer italienischen Kleinstadt und machen Urlaub. Eva ist sauer, weil er nicht froh ist. Und sie hat recht. Er ist nicht froh, weil er nie froh ist. Und Eva ist sauer, weil sie immer sauer ist. So sieht ihr Leben aus. So sah sein Leben bis vor einem Monat aus.
Er schüttelt den Kopf und geht nach achtern, immer noch die Hände in den Taschen. Gewaltige graublaue Blöcke erheben sich und kippen nur wenige Meter neben ihm um. Die Eismühle der Oden dröhnt und donnert. Der Lärm umschließt ihn, errichtet Wände um seine Gedanken. Er überquert das Achterdeck, mit gesenktem Kopf, starrt nach unten, um nicht über irgendein Kabel oder Drahtseil zu stolpern, und
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