Eis und Wasser, Wasser und Eis
Mauer zwischen ihnen errichten, bevor er sich selbst zur Seite wirft und beide rettet, sich selbst und sie, und er sieht zum Schluss ihr weißes Gesicht und die schwarzen Augen, als sie sich nach ihm umdreht und ihn voller Verachtung betrachtet. Und gleichzeitig weiß er, obwohl er es damals sich selbst nicht eingestand, dass er diese Verachtung teilte.
Der Wind hat seine Kapuze zu fassen gekriegt, weht sie herunter, und der eiskalte Wind brennt auf seinem kahlen Schädel, zwingt ihn dazu, sich einen Moment zu ducken. Dann weckt er ihn. Tröstet ihn. Sie haben ja nie Kinder bekommen. Und erst jetzt, während er an Deck des Eisbrechers Oden steht und über die graublaue Eislandschaft blickt, kann er sich selbst eingestehen, dass das nicht nur ein Grund zur Trauer war, sondern auch eine Erleichterung. Denn was hätte jemand wie Eva nicht alles mit einem kleinen Kind machen können? Und wie hätte er sie daran hindern sollen? Er hatte sie doch an nichts hindern können. Er wusste ganz einfach nicht, wie man das machte. War wohl nicht intelligent genug dafür.
Er richtet sich auf und blinzelt. Schaut sich um, bevor er die Treppe hinaufgeht. Vielleicht war es nur die Verachtung, die sie zusammenhielt, ihre Verachtung seiner Person und seine Selbstverachtung. Oben auf dem Vorderdeck bleibt er wieder stehen und setzt sich die Kapuze auf, lässt dann die Hand in die Gesäßtasche seiner Jeans gleiten, sucht die Brieftasche. Er zieht sie heraus und öffnet sie, nimmt das alte Foto, das eine junge Eva zeigt, blond und lächelnd, aus einer Plastikhülle. Er zieht es heraus, während er wieder losgeht, schaut es nicht an, richtet seinen Blick stattdessen auf das Labor.
Ulrika. Vielleicht könnte sie …
In dem Moment wird die Tür geöffnet, und da steht sie, mit braunen Augen, Sommersprossen, lächelnd.
»Hallo«, sagt sie. »Willst du reinkommen?«
Dann bricht die Nacht über dem Nördlichen Eismeer herein. Eine Nacht, die mit Regen, Nebel und Wind anfängt. Die Welt ist grau. Graue Wolken hängen tief am Himmel. Graubraune Inseln sind am Horizont zu erahnen. Graublaues Eis wird aufgebrochen und bildet eine Mauer um das Schiff herum. Aber auf das Deck der Oden fällt ein Foto, dessen Farben nur langsam verblasst sind. Eine pastellfarbenes junges Mädchen lächelt in die Kamera. Ihre Wangen sind nur eine Spur zu hell, und ihre Lippen glänzen lachsrosa, aber die Augen sind immer noch schwarz, der Blick intensiv.
Der Regen klebt das Foto an Deck. Jemand tritt schwer darauf, als wollte er es noch fester kleben. Dann bleibt es stundenlang dort liegen, und die ganze Zeit lächelt das Mädchen den Himmel an, lächelt, dass der Regen eintrocknet, lächelt, dass der Wind sich legt, lächelt, dass die Wolken aufreißen müssen und die graue Nacht in einen strahlenden Wintertag mitten im Sommer verwandeln, lächelt, dass …
Jemand geht übers Deck. Bleibt stehen und betrachtet das Foto einen Moment lang, schaut sich dann um, will sehen, ob sonst noch jemand da ist, jemand, der vielleicht etwas weiß, sieht aber niemanden, beugt sich dann hinunter und hebt es auf, streicht mit einem Handschuh über die feuchte Oberfläche und nimmt dann das Bild mit hinein. Zieht die Handschuhe aus und geht zum Treffpunkt der Oden, dem Punkt, an dem alle vorbeigehen müssen, wenn sie zur Messe wollen, befestigt das feuchte Bild auf der Magnettafel und schreibt mit rotem Filzstift darunter: »WER HAT DAS VERLOREN?«
Das darf nicht wahr sein!
Susanne bleibt vor der Anschlagtafel stehen und starrt das Foto an. Sie erkennt es wieder. Sie selbst hat es gemacht, hat es vor langer, langer Zeit aufgenommen, aber damals waren zwei Personen auf dem Foto. Fast der gesamte Björn ist jetzt weg, jemand hat ihn abgeschnitten, und das Einzige, was man von ihm noch sehen kann, ist seine Hand auf Evas Schulter. Eva gefiel das Bild, es gefiel ihr so gut, dass sie darum bat, es behalten zu dürfen, und Susanne lächelte, denn das war noch in der Zeit, als sie Eva anlächelte, und überließ ihr den einzigen Abzug.
Und jetzt hängt er hier an der Infotafel der Oden. Das darf nicht wahr sein. Das ist ganz einfach nicht möglich.
Ein leichter Duft dringt aus der Messe, frisch gekochter Kaffee und frisch gebackenes Brot, und für den Bruchteil einer Sekunde ist sie versucht, dann sieht sie ein: Das geht nicht. Sie kann nicht den Treffpunkt verlassen, bevor sie eine Antwort auf die Frage unter dem Foto hat, die mit Großbuchstaben dort geschrieben steht …
»WER
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