Eis und Wasser, Wasser und Eis
stößt aus Versehen mit einer Schulter gegen einen roten Container, doch auch das bringt ihn nicht dazu, die Hände aus den Taschen zu nehmen. Er schüttelt sich nur und geht weiter. Und dann kommt er endlich an. Schließlich steht er am offenen Heck der Oden und betrachtet das, was hinter dem Schiff liegt. Einige Meter offenes Kielwasser und dahinter ein gefrorener Wall aus gebrochenem Eis, das wie eine Mauer in der Landschaft liegt. Eine Mauer, die dort liegen bleiben wird bis zu dem Tag, an dem die Erderwärmung so weit fortgeschritten ist, dass das Eis nur noch eine Erinnerung, ein Märchen ist …
Eis ist eine Unordnung, die wie eine Ordnung aussieht, denkt er und muss schmunzeln. Das hat er irgendwo gelesen. Denn molekular ist Eis tatsächlich viel beweglicher als Wasser. Aber hier nicht. Hinter der Oden sieht das gebrochene Eis wirklich genauso aus wie die Unordnung, die es ist.
Das Kielwasser ist sehr dunkel. Fast schwarz. Der feine Regen bildet einen Nebel, einen Nebel, der in Grau und Weiß übergeht. Das sind Evas Farben. Die Farben der ursprünglichen Eva, die Farben, mit denen sie sich umgab, als er sie das erste Mal sah. Für einen Moment ist er wieder ein junger Mann, ein Arzt in der Ausbildung, der seine sechs Monate in der psychiatrischen Klinik absolviert, ein fast fertig ausgebildeter Arzt, der noch nicht viel gesehen und nichts verstanden hat und deshalb vollen Ernstes überlegt, sich auf Psychiatrie zu spezialisieren. Er steht in einer Türöffnung von Sankt Mikaels, der großen psychiatrischen Klinik südlich von Stockholm, die bereits seit über siebzig Jahren existiert, aber nur noch vierzehn Jahre vor sich hat, und schaut in einen grauen und weißen Raum. Darin liegt eine Patientin mit geschlossenen Augen. Schläft sie? Ja, davon ist er überzeugt, auch wenn er viel später in seinem Leben diese Beobachtung des ersten Augenblicks immer wieder in Frage stellen wird, aber jetzt, in diesem Moment, ist er der festen Überzeugung, dass sie schläft. Sie liegt auf dem Rücken, der eine Ärmel des Krankenhausnachthemds ist so hochgeschoben, dass ihr linker Arm entblößt ist. Er beschreibt eine weiße Kurve auf der grauen Krankenhausdecke, und ihre Haut ist so dünn, dass er bereits auf einige Meter Entfernung die blauen Linien der Adern sehen zu können meint. Ihr Haar ist sehr blond und schön gekämmt, es glänzt leicht golden. Die Wangen sind weiß und werden leicht von schwarzen Wimpern beschattet, und die Lippen – diese halb geöffneten Lippen! – sind so blass rosa, dass es aussieht, als hätten sie gar keine Farbe.
Eine Märchenprinzessin, denkt er und gibt sich in Gedanken sofort darauf einen Schubs. Was ist das für ein Blödsinn! Er ist schließlich als ihr neuer Arzt gekommen, er darf und will sie als nichts anderes betrachten als eine Patientin. Eine Patientin, die obendrein noch von der Polizei gebracht wurde, zwei blassen Polizisten, die absolut davon überzeugt waren, dass sie verrückt war. Sie hatte ja eine Schlägerei angezettelt. Sie war ein Mädchen, ein ganz normal kräftiges Mädchen, und dennoch war sie vor zwei Abenden aufgegriffen worden, als sie einen englischen Popstar verprügelte. Der lag jetzt im Karolinska Krankenhaus mit zwei gebrochenen Fingern, einer angeknacksten Rippe und einem ziemlich ramponierten Selbstbewusstsein. Auf der Station wurde bereits über sie geredet, einige der jüngsten Aushilfspflegerinnen meinten sie wiederzuerkennen, flüsterten, dass sie es doch war, die vor ein paar Jahren mit Björn Hallgren zusammen gewesen war. Damals. Als es passiert war. Da hatte er sie einfach zurechtweisen müssen, hatte sich geräuspert und versucht, streng zu klingen, die Hände in die Tasche des weißen Arztkittels geschoben. Man tratscht nicht über Patienten, und schon gar nicht in der Psychiatrie. Und jetzt stand er vor ihr, im selben weißen Kittel, und versuchte sich selbst gegenüber genauso streng zu bleiben. Seine Aufgabe ist es, nicht sentimental zu werden. Seine Aufgabe ist es, ein für alle Mal die Diagnose zu stellen und die richtige Therapie zu finden. Eine heimliche Fantasie von großem Erfolg flattert so schnell durch seine Gedanken, dass er sie gar nicht bemerkt, erst später, viele Jahre später, wird er sich daran erinnern. Also räuspert er sich stattdessen. Also klopft er leicht an den Türpfosten. Also macht er schließlich einen Schritt hinein in ihr Einzelzimmer und lächelt, wie er hofft, ein freundliches, vertrauenerweckendes
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