Eis und Wasser, Wasser und Eis
HAT DAS VERLOREN?«
Sie lässt sich auf eine an der Wand festgeschraubte Bank sinken, mit geradem Rücken, die Hände im Schoß gefaltet, und starrt vor sich hin, bis sie Schritte auf der Treppe hört und jemanden, der kichert. Augenblicklich verändert sie ihre Haltung, nimmt sich ein Papier von der Infotafel und schlägt die Beine übereinander, tut so, als läse sie, hebt nur kurz den Kopf und lächelt, als Ola und Jenny auftauchen. Die lassen sich los und erwidern ihr Lächeln, nach allem zu urteilen etwas beschämt, aber nicht so beschämt, dass sie sich nicht gleich wieder bei der Hand nehmen, noch bevor sie auf dem Gang zur Messe verschwunden sind.
Sekunden später kommt Katrin. Sie sieht unglücklich aus, solange sie glaubt, dass sie allein ist, lässt den Kopf hängen, macht den Rücken krumm. Es sieht aus, als hätte ihr jemand ein unsichtbares Joch um die Schultern gelegt, aber als sie Susanne erblickt, richtet sie sich sofort auf und lächelt. Susanne hebt den Blick von dem Papier, es geht darauf wohl um irgendeine Umfrage, die das Seefahrtsamt durchführen will, und erwidert das Lächeln. Katrin fasst sich an den Hals und zuckt mit den Schultern. Susanne versteht nicht, was sie meint, lächelt aber weiter.
Der saure Sture kommt als Nächster. Er nickt nur kurz, stellt sich dann breitbeinig mitten auf den Gang und starrt auf den Monitor an der Stirnseite, kontrolliert offenbar, ob die Wetterangaben stimmen, brummt dann etwas Unverständliches und verschwindet Richtung Messe. Danach bleibt es über eine Minute lang still, so ruhig und so still, als hätte die Welt aufgehört zu existieren, ehe plötzlich irgendwo eine Tür ins Schloss fällt und mehrere Stimmen zu hören sind, männliche und weibliche. Schritte laufen die Treppe herunter, und dann taucht eine ganze Gruppe auf, Vincent und Eduardo, ein paar amerikanische Forscherinnen und Robert mit einem blendend weißen Verband um seine verletzte Hand, und sie lachen und reden so angeregt, dass sie kaum Susanne grüßen können. Vincent hebt nur die Hand, als sie vorbeigehen, bevor er neben eine der Amerikanerinnen huscht und etwas sagt. Ein Scherz vermutlich, denn sie lacht, und Robert wirft Vincent einen Blick aus schmalen Augen zu, bevor er lächelt und etwas sagt, was die Amerikanerin noch lauter lachen lässt.
»Hier sitzt du?«
Susanne dreht den Kopf. John steht dicht neben ihr. Er lächelt, aber nicht breit genug, um zu kaschieren, wie müde er ist. Er hat leichte Ringe unter den Augen. Sie versucht das Lächeln zu erwidern.
»Ja.«
»Hast du schon gefrühstückt?«
»Nein. Noch nicht.«
Er steckt die Hände in die Hosentaschen und macht eine Bewegung mit dem Oberkörper, als versuchte er, mit den Schultern die Richtung anzuzeigen.
»Kommst du mit?«
Susanne schüttelt leicht den Kopf und hängt die Umfrage des Seefahrtsamtes zurück an die Wand, nimmt sich die tägliche Zusammenfassung der Nachrichtenagenturmeldungen herunter.
»Gleich …«
Sie versucht zu lesen, aber das klappt nicht. John bleibt bei ihr stehen, tritt auf der Stelle, bis er sich plötzlich aufrichtet und geht. Susanne schaut ihm nach und öffnet den Mund, wie um seinen Namen zu rufen, schließt ihn aber gleich wieder. Warum sollte sie ihn rufen?
Leise Geräusche dringen aus der Messe, während sie die Nachrichtenzusammenfassung liest, Klirren von Porzellan und Besteck, Lachen, ein gedämpftes Rauschen – wie von vielen Menschen, die einander einen guten Morgen wünschen, und einen Moment lang meint Susanne sie vor sich zu sehen, sie mit den Augen jedes Einzelnen betrachten zu können. Dann kneift sie die Augenlider zusammen und zwingt sich wieder dorthin zurück, wo sie tatsächlich ist. Zur Anschlagtafel. Wartend. Ohne eigentlich zu wissen, worauf. Sie versucht sich auf die Nachrichten zu konzentrieren, aber schon die erste Schlagzeile – 42 TOTE BEI NEUEM SPRENGSTOFFATTENTAT – bedeutet ihr nichts als Worte, es gelingt ihr nicht, den Zusammenhang im Text zu erfassen.
Jemand hat ein Satellitenfoto neben Evas Foto gehängt, ein Bild, das ihren Weg zeigt. Das Schiff ist nicht zu sehen, dazu ist es zu klein, aber seine Spur im Eis zeichnet eine dünne schwarze Linie auf der weißen Oberfläche ab. Unter das Bild hat jemand mit demselben roten Filzschreiber einen triumphalen Ausruf geschrieben: WIR SIND VOM ALL AUS ZU SEHEN! Kurz steigen Susannes Gedanken nach oben, schweben dort neben dem Satelliten, sie schaut hinunter auf die weiße Kappe des Planeten und den
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