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Eis und Wasser, Wasser und Eis

Titel: Eis und Wasser, Wasser und Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Majgull Axelsson
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Arztlächeln.
    »Fräulein Salomonsson«, sagt er leise und fühlt sich gleichzeitig etwas albern. »Fräulein« ist kein Wort, das seine Generation benutzt, aber der Oberarzt Sandström war in diesem Punkt sehr entschieden. Niemand duzt in diesem Krankenhaus einen Patienten.
    Eva schlägt die Augen auf und schaut ihn an. Ihre Augen glänzen.
    »Herr Doktor«, sagt sie mit schwacher Stimme. »Helfen Sie mir!«
    Fünfunddreißig Jahre später steht er auf dem Achterdeck des Eisbrechers Oden und schließt bei dieser Erinnerung die Augen. Was hat er damals gedacht? Hat er überhaupt etwas gedacht? Irgendwo in seinem Kopf muss ihm doch bewusst gewesen sein, was da passierte, das weiß er, das kann er sich selbst gegenüber nicht mehr leugnen, aber er weiß noch genau, wie es in ihm vor Begeisterung prickelte, als er es geschehen ließ. Er ging immer häufiger zu ihr ins Zimmer, hatte etwas bei ihr zu tun, auch wenn er überhaupt nichts dort zu tun hatte. Nach ein paar Tagen fing er damit an, sich auf ihren Besucherstuhl zu setzen, und nach weiteren Tagen begann er insgeheim eine Gesprächstherapie, eine informelle Gesprächstherapie, wie er sich sagte, denn er hatte ja keine Ausbildung in Psychotherapie.
    »Ich bin nicht verrückt«, sagte Eva eines der ersten Male, als er an ihrem Bett saß. »Du musst mir glauben. Ich bin nicht verrückt.«
    »Ich weiß«, erwiderte er. »Aber du bist zerbrechlich.«
    Das Wort gefiel ihr, das war offensichtlich, es ließ sie leise seufzen und sich tiefer in die Kissen fallen.
    »Ja. Zerbrechlich.«
    »Und das, was passiert ist …«
    Die Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie zwinkerte, sodass sie überliefen und ihr über die weißen Wangen rannen. Anders registrierte glückselig, dass sie weinen konnte, ohne zu schluchzen und ohne hässlich das Gesicht zu verziehen, schob diesen Gedanken aber sofort beiseite. Eva flüsterte fast:
    »Ich möchte nicht darüber reden …«
    Einen Moment lang schwieg er.
    »Aber vielleicht musst du das. Früher oder später.«
    Sie suchte nach seiner Hand, doch er schloss rasch die Finger in einem letzten Versuch, sich zu schützen, konnte jedoch nicht ignorieren, wie ihn eine Gänsehaut überfuhr. Ich will , dachte er, ohne sich zu trauen zu formulieren, was er wollte. Sekunden später öffnete er die Hand wieder, saß mit offener Handfläche da und sah, wie sich ihre weiße Hand dareinschmiegte.
    »Noch nicht«, sagte sie leise. »Später. Aber jetzt noch nicht.«
    Dann hob sie rasch seine Hand und strich sich langsam damit über die Lippen.
    Und dann passierte es. Ein Kuss. Sie bekam an seinem freien Abend Ausgang. Essen in einem Hotel in einer etliche Kilometer entfernten Stadt und anschließend ein Doppelzimmer. Die Seligkeit aller Seligkeiten. Gefolgt von dem anderen. Dem, was kommen musste.
    »Bleiben Sie noch«, sagte der Oberarzt Sandström einige Monate später nach der Ärztekonferenz. Anders, der gerade aufstehen wollte, ließ die Armlehnen los und sank zurück, während sich sein Blick gleichzeitig an den drei Assistenzärzten festhakte, die auf dem Weg zur Tür waren und sich nicht losreißen konnten. Eine von ihnen, eine Frau in den Vierzigern, drehte sich um und schüttelte verstohlen den Kopf. Es war nur eine kleine Bewegung, sehr verhalten und diskret, aber sie genügte, um ihm einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen. Gleich darauf setzte er sich aufrecht hin und sah den Oberarzt Sandström an.
    »Ja?«
    Sandström beobachtete ihn über seine runden Brillengläser hinweg und blieb einen Moment lang schweigend sitzen.
    »Sie können sich also eine Zukunft in der Psychiatrie vorstellen, Doktor Jansson?«
    Anders schluckte.
    »Wie bitte?«
    Sandström beugte sich vor und klopfte mit dem Zeigefinger auf den Konferenztisch:
    »Ich habe gefragt, ob Sie sich eine Zukunft in der Psychiatrie vorstellen können, Doktor Jansson!«
    Anders räusperte sich, versuchte seine Stimme zu finden:
    »Ja, schon, aber ich habe noch …«
    »… noch einige Praktika zu absolvieren. Ja. Das weiß ich. Und das ist wahrscheinlich nur ein Glück.«
    »Wie bitte?«
    »Entschuldigen Sie, aber hören Sie schlecht? Ich habe gesagt, dass das wahrscheinlich nur ein Glück ist.«
    Anders holte tief Luft, als wollte er etwas erwidern, aber es kam nichts von ihm. Er saß schweigend da und versuchte seinen Blick ruhig zu halten.
    »Allgemeinmedizin, das wäre vielleicht etwas«, sagte Sandström. »Oder Chirurgie. Vielleicht sogar Orthopädie. Auf jeden Fall

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