Eis und Wasser, Wasser und Eis
dann ein paar Schritte näher und greift nach seiner Uhr, die auf dem Tisch neben dem Computer liegt. Guckt auf sie. Es ist erst halb sechs. Und trotzdem herrscht draußen Dämmerung. Trotzdem sieht es draußen aus, als wäre es bereits Nacht.
Er schlägt den Kragen seines Bademantels hoch, zögert einen Moment, doch dann tritt er näher, fährt mit dem Ärmel über das Fenster in einem unbewussten Versuch, die Dämmerung wegzuwischen, redet sich jedoch gleichzeitig ein, dass es der Dunst ist, auf den er es abgesehen hat, dieser Dunst, der vielleicht, möglicherweise, eventuell aus dem Badezimmer gedrungen ist, als er die Tür öffnete und dann wieder hinter sich schloss, weiß aber zugleich, dass das eine Lüge ist. Es war die Dämmerung, die er wegwischen wollte. Und jetzt, während er dicht am Fenster steht, begreift er auch, warum.
Sie haben die Welt verlassen.
Sie sind irgendwo anders. Nicht auf der Nordwestpassage. Nicht auf der Erde.
Anderswo.
Die Landschaft draußen sieht aus, wie er sich eine Landschaft auf einem anderen Planeten vorstellt. Vielleicht auf dem Mars. Oder der Venus. Das glatte weiße Eis ist buckelig und braun geworden, es sieht steinig aus, wie Erde, Klippen und Felsbrocken, und es hat tiefe schwarze Risse und Löcher wie von Meteoriten. Und der Himmel darüber ist nicht blau und nicht grau. Er ist eher helllila. Fast fliederfarben. Ein Himmel von einem anderen Planeten.
Anders schluckt und richtet sich auf. Natürlich handelt es sich nicht um Erde, Klippen und Felsbrocken. Selbstverständlich nicht. Es ist Eis. Sie fahren immer noch durch das Eis, denn die Oden bewegt sich vorwärts, das sieht er, das kann er spüren, und kein Schiff, nicht einmal die Oden, könnte sich durch eine Wüstenlandschaft vorwärtsbewegen. Das Braune ist etwas anderes, eine Art Moos vielleicht …
Er muss es fotografieren. Natürlich. Er öffnet das Fenster ein wenig, horcht auf den Sturm, hört aber nichts anderes als das dumpfe Hämmern der Motoren, dann holt er seinen Fotoapparat, schlägt das Fenster weit auf, lehnt sich an den Rahmen und stellt die Schärfe ein, macht das erste Bild. In dem Moment klopft es an die Tür.
Draußen steht Ulrika. Eine für den Samstagabend zurechtgemachte Ulrika. In sauberen Jeans, weißer Bluse, einen blauen Pullover über den Schultern. Sie hat auch einen Fotoapparat in der Hand, sie lächelt und klingt geradezu glücklich, als sie sagt:
»Hast du’s gesehen? Hast du die Eisalgen gesehen?«
Susanne bleibt still liegen, als sie aufwacht, schlägt nur die Augen auf und heftet den Blick an die Decke. Etwas ist mit der Decke. Etwas Neues. Eine andere Farbe. Sie ist immer noch weiß, aber nicht normal weiß. Bei ihrem nächsten Gedanken muss Susanne ein wenig schmunzeln. Unnormal weiß. Oder genauer gesagt ein ungewöhnlicher weißer Farbton. Fast grau, wenn da nicht der leichte Braunstich in dem Weiß wäre. Merkwürdig.
Sie wirft einen Blick auf die Uhr, es ist bereits halb sechs. Du liebe Güte. Sie hat verschlafen; schnell steht sie auf, bleibt einen Moment lang schwankend neben der Koje stehen, bevor sie noch einen Blick auf die Uhr wirft. Stimmt. Halb sechs. Sie hat zwei Stunden geschlafen. Und das aus purer Erleichterung. Niemand ist in ihrer Kabine gewesen, sie ist herumgelaufen, sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, und hat systematisch jeden Schrank geöffnet, jede Wand abgesucht, sogar das Bettzeug aus ihrer Koje herausgerissen und geschüttelt, nur um sich zu vergewissern, dass es wirklich stimmte. Und es stimmte. Slips und Strümpfe lagen da, wo sie hingehörten. Die andere Kleidung hing an ihren Bügeln. Niemand hatte etwas in die Kulturtasche gelegt. Die Wände waren sauber und rein, genau wie sie sie hinterlassen hatte. Nichts lag versteckt unter dem Bettüberzug und auch nichts unter der Matratze. Der Laptop war nicht geöffnet worden, niemand hatte sich eingeloggt und sabotiert, was sie bereits geschrieben hatte. Die Reisetasche war genauso leer, wie sie sein sollte.
Kurzum, alles war in Ordnung gewesen. Deshalb hatte sie sich in ihre Koje gelegt und vor Erleichterung geseufzt. Und dann die Augen geschlossen und sich für mehr als zwei Stunden von der Welt verabschiedet.
Aber jetzt ist Eile geboten. In einer halben Stunde muss sie es schaffen zu duschen und die Haare zu waschen, sich ein Gesicht auf die Vorderseite des Kopfes zu malen, wie ein alter Freund es einmal ausdrückte, und sich anzuziehen. Sie zieht sich den Pullover über den
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