Eis und Wasser, Wasser und Eis
seither vergangen, und trotzdem passiert es immer wieder. Es ist nicht das erste Mal. Nicht einmal das hundertste. Vielleicht ist es das tausendste Mal. Elsie betrachtet die damalige Susanne mit Mitgefühl, obwohl sie selbst doch im Sterben liegt, und darum ist auch sie es, die Susannes Hand nimmt und sie streichelt, nicht Susanne die ihre, deshalb ist sie diejenige, die tröstende Worte flüstert.
»Du sollst nicht so gemein zu dir selbst sein«, sagt sie. »Du hast keine Schuld. Nichts von dem, was passiert ist, lag an dir. Nicht das, was mit Björn passiert ist, nicht das, was Inez passiert ist, nichts davon. Ich schwöre es. Es ist einfach nur passiert.«
Susanne nickt, sieht Elsie jedoch nicht an. Sie schaut stattdessen auf ihre Hand, die in Elsies Hand liegt, und sie sieht, wie Elsies andere Hand darüberstreicht. Blaue Adern bilden ein Muster. Die Haut ist schlaff und grau. Aber ihre Stimme ist plötzlich wie früher. Jung und kräftig.
»Hör auf, dich selbst zu bestrafen, Susanne. Du lebst, und du sollst leben. Genieß es ein wenig. Freu dich. Denn du lebst, und schon in wenigen Tagen wirst du die Einzige von uns sein, die lebt. Dann bist du allein übrig. Dann bist du frei.«
Und ich lebe, denkt Susanne jetzt. Das stimmt wirklich. Elsie ist tot, Inez ist tot, Birger ist tot, Lydia ist tot und vielleicht auch Björn … Aber ich lebe. Und es spielt keine Rolle, ob ich eine miserable Krimiautorin bin, ich bin immerhin ein lebendiger Mensch, der das alles erlebt hat, ich durfte durchs Eis reisen, ich habe Eisberge gesehen, ich war sogar in einem richtigen Polarsturm draußen …
Sie blinzelt, dort, wo sie steht, plötzlich besorgt, sie könnte laut gesprochen haben oder irgendwie merkwürdig aussehen, und schaut sich rasch um, aus Angst, jemand könnte sie gesehen haben. Aber es ist niemand da, es ist immer noch menschenleer auf dem Treffpunkt. Und endlich, nach zehn langen Jahren, ist es Elsie gelungen, sie zu überzeugen. Sie darf leben. Zumindest in diesem Augenblick.
Sie schmunzelt vor sich hin und schaut auf ihre Arme. Darin hält sie die blaue Polarjacke. In der rechten Hand ihre Stiefel. Draußen tobt immer noch der Sturm, aber er kann sie nicht erreichen. Sie ist sicher, sie ist geschützt und geborgen hinter den Metallwänden der Oden. Und jetzt wird sie still und ruhig in ihre Kabine gehen, sich unter die Dusche stellen und warm und sauber werden. Sich ein bisschen hübsch machen für den Abend. John zuliebe und sich selbst zuliebe.
Ein blau gekleideter Mann lächelt, als sie am Büro des Maschinisten vorbeigeht, und sie erwidert sein Lächeln, hebt sogar die Stiefel zu einer Art Gruß, bevor sie die Treppe hinaufgeht. Zählt die achtzehn Stufen bis zu ihrem Stockwerk, zuerst neun und dann noch einmal neun, biegt dann nach rechts ab, um auf ihren Gang zu gelangen, und steckt gleichzeitig die Hand in die Tasche, um den Schlüssel herauszuholen …
Was war das?
Sie bleibt stehen und blinzelt, versucht zu begreifen, was sie gesehen hat. Eine Bewegung. Etwas Schwarzes oder Dunkelblaues, das schnell um eine Ecke am anderen Ende des Korridors verschwunden ist.
Wer war das?
Sie bleibt noch einen Moment lang stehen und lässt die Möglichkeiten Revue passieren. Das konnte ja jemand sein, der auf dem Weg in den anderen Gang war und der eine Abkürzung genommen hat, jemand, der sie nicht hat kommen sehen und deshalb nicht stehen geblieben ist, um sie zu grüßen. Oder jemand, der eine heimliche Liebesaffäre hat. Auf diesem Flur. Und der deshalb nicht gesehen werden möchte.
Wenn es nicht jemand war, der gerade in ihrer Kabine gewesen ist.
Susanne verzieht das Gesicht über sich selbst. Nicht feige sein. Zieht den Schlüssel heraus und geht zur Tür. Macht sich bereit, sie zu öffnen.
Sie lebt. Noch lebt sie.
Die Oden könnte das einzige Schiff auf der ganzen Welt sein.
Die Oden ist das einzige Schiff auf der ganzen Welt.
Die Menschen an Bord könnten die einzigen Menschen sein.
Sie sind die einzigen Menschen.
Der Sturm könnte nur über ihnen heulen. Das Eis liegt hart gefroren in der Erwartung, niedergedrückt und genau von diesem Schiffsrumpf gebrochen zu werden. Seehunde und Eisbären könnten reglos auf das Zeichen für ihren Auftritt warten.
Die Oden könnte ein eigenes Universum sein.
Die Oden ist ein eigenes Universum.
Eine Welt auf dem Weg in eine ganz andere Welt.
Als Anders aus der Dusche kommt, wirft er einen Blick aus dem Fenster. Bleibt stehen und schaut verblüfft, tritt
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