Eis und Wasser, Wasser und Eis
es an zu regnen, nein, zu schneien, es ist ein bitterkalter Schneefall mit kleinen harten Körnern, der plötzlich alle anderen Sinneseindrücke verdrängt, ein Schneefall, mit dem heftige Windböen einhergehen. In nicht einmal einer Minute schrumpft die Welt zusammen. Das Einzige, was noch übrig ist: ein Meter Deckfläche.
Susanne kauert sich zusammen und lässt ihre Zigarette in das weiße Unbekannte fallen, dorthin, wo eben noch das Eis lag und wo es hoffentlich immer noch liegt, setzt sich dann ihre Kapuze auf und eilt zur Tür zu ihrem Flur. Der Wind zerrt an ihrer Jacke, lässt sie an ihrem Rücken flattern, und ein paar Sekunden lang hat sie das Gefühl, er werde sie gleich hochheben, sie übers Deck fliegen lassen, über die Reling, auf das Eis hinaus, sie irgendwo weit draußen in der weißen Unendlichkeit fallen lassen, aber das passiert natürlich nicht. Der Wind zerrt an ihr, knufft und schubst sie, aber er schafft es nicht, sie hochzuheben. Sie steht da, wo sie steht, und versucht die schwere Tür zu öffnen, aber das geht nicht, obwohl sie den Türgriff mit beiden Händen umklammert und ihn mit ihrem gesamten Körpergewicht herunterdrückt. Es gelingt ihr nicht, weil der Wind dagegenhält, er lacht höhnisch und hält die Tür geschlossen, sosehr sie auch an ihr zieht und zerrt.
Sie gibt fast augenblicklich auf, drückt sich dicht an die Wand der Oden und trippelt mit ganz kleinen Schritten zur Leiter ein Stück weiter, packt das Geländer mit beiden Händen und schwört sich selbst einen heiligen Eid, nicht loszulassen, was der Wind auch mit ihr tun möge, denn hier hat er freie Bahn, hier ist er schlimmer als sonst überall, hier kann er sie leicht packen, sie umwerfen, herunterfallen lassen und sie gegen die scharfen Kanten der Stufen schmeißen. Sie wird das nicht zulassen, auch wenn die Kapuze herunterweht, auch wenn ihr Nacken der Kälte schutzlos ausgesetzt ist, die zuerst zwickt und dann zubeißt, auch wenn tausend kleine Eiskörnchen sie zwingen, die Augen zusammenzukneifen. Sie denkt gar nicht daran aufzugeben, nie im Leben, wie ein kleines Kind geht sie seitwärts die Leiter hinunter, ein Fuß, der andere Fuß, ein Fuß, der andere Fuß, und hält sich eisern am Geländer fest, hält nicht einmal an, als die Tränen zu fließen beginnen, kauert sich nicht mehr zusammen, achtet nur darauf, dass sie schließlich, nach einer Ewigkeit, die Füße auf das untere Deck setzen kann. Nur noch fünfundzwanzig Meter bis zur nächsten Tür, und hier gibt es auch eine Wand, an die sie sich pressen kann, mit dem Rücken, an der sie sich mit den Fingern vorantasten kann, denn auch wenn sie nichts sieht, auch wenn sie die Augen nicht offen halten kann, wird sie sich nicht auf Abwege locken lassen, sich verlaufen und in diesem Unbegreiflichen verschwinden …
Und da ist endlich die Tür. Sie dreht sich um und zerrt an ihr, zieht mit beiden Händen, doch es nutzt nichts. Der Wind hält wieder dagegen, der Wind lehnt sich lässig gegen die Tür aus Glas und Metall und verhöhnt ihre Anstrengungen, hebt ihr nasses Haar hoch, lässt die Kälte mit einer Hand über eine Haarsträhne streichen und verwandelt sie in Eis, lacht dann richtig laut, als sie mit beiden Händen gegen das Glas hämmert, lacht so laut, dass er ihre Rufe übertönt, und dreht sich erneut der Kälte zu und bittet …
In dem Moment wird die Tür geöffnet, jemand drückt sie von innen auf, und Susanne stolpert hinein, zitternd und bebend. Der Wind streckt eine Hand hinein und versucht nach ihr zu greifen, aber das gelingt ihm nicht, Sekunden später ist die Tür geschlossen, und der Sturm tobt vor Wut draußen weiter, während Susanne sich gegen eine Wand lehnt und zu Atem kommt.
»Meine Güte!«, sagt sie und blinzelt. Es tropft von ihrem Pony. Sie zieht einen Handschuh aus und streicht sich über die Stirn.
»Was ist passiert?«
Es ist John. Er steht vor ihr und zieht seine grauen Augenbrauen hoch, schaut verwundert und besorgt drein. Susanne blinzelt.
»Sturm ist aufgekommen. Ich war draußen, um eine zu rauchen, und dann war der Sturm da. In null Komma nichts.«
»Hast du denn die Warnung nicht gesehen?«
»Welche Warnung?«
»Auf dem Bildschirm. Am Treffpunkt.«
Susanne schüttelt den Kopf, während sie sich die Stiefel auszieht.
»Nein. Aber vielen Dank, dass du mir aufgemacht hast. Ich hätte es allein nicht geschafft.«
Er zuckt mit den Schultern.
»Wollen wir ins Raucherzimmer gehen?«
Susanne unterdrückt ein
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