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Eis und Wasser, Wasser und Eis

Titel: Eis und Wasser, Wasser und Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Majgull Axelsson
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gesund wird.«
    Ihre eigene Stimme beruhigte sie. Ließ sie ruhiger werden. Nichts hatte sich gelöst, nichts war besser geworden, vielleicht würde es sich nie lösen, vielleicht würde es nie wieder ganz gut werden, trotzdem spürte sie plötzlich eine vollkommene Ruhe. Ich bin ein Mensch, dachte sie. Ich bin nur ein Mensch unter anderen Menschen. Ich muss nicht mehr fliehen. Ich trage meine eigene Schuld. Ich ertrage es.
    »Komm«, sagte sie zu Lydia und legte den Arm um sie. »Komm mit rein zu mir, wir trinken eine Tasse Tee.«
    Lydia sah sie einen Moment lang an, nickte dann. Elsie lächelte ihr zu, lächelte ein durch und durch echtes kleines Lächeln. Jetzt wusste sie, was sie tun musste. Und wie es zu tun war. Die Buße hatte begonnen.
    Sie waren ganz allein im Waggon. Vollkommen allein. Das gedämpfte Licht war schmutzig gelb, die Sitze waren steif und mit diesem braunen Plüsch bezogen, mit dem jahrzehntelang alle Sitze in schwedischen Zügen bezogen worden waren. Die neue Generation hatten Bezüge in rotem Stoff. Also war es kein moderner Zug. Es war ein altmodischer Zug, ein Zug, dessen Einrichtung allein schon die Reisenden zurechtzuweisen schien. Was bildeten sie sich ein? Glaubten sie wirklich, dass die Eisenbahngesellschaft es ihnen gestatten würde, an einem Abend wie diesem die neuen Bezüge abzuwetzen? An einem Silvesterabend, an dem alle vernünftigen Menschen ihre Reisen beendet hatten, an dem alle Frauen, junge wie alte, reiche wie arme, vor dem Spiegel standen und ihre Frisur richteten, an dem alle Männer ihre Krawatten banden, an dem keiner ohne zwingenden Grund eine Reise antreten würde.
    Bis auf sie beide. Elsie und Susanne.
    Vor dem Fenster war es dunkel, nur ab und zu blitzte das Licht eines Fensters eines Autos oder einiger Straßenlaternen in einer Wohnstraße irgendwo auf. Das war angenehm zu sehen, zu wissen, dass es da draußen Menschen gab, die nicht von Sorgen niedergedrückt wurden, Menschen, die ohne Trübsal lebten und die sich bereit machten, wieder einmal Silvester zu feiern, aber es war noch angenehmer zu wissen, dass man selbst nicht mitfeiern musste. Dass man das Recht hatte, es sein zu lassen. Dass man befreit war.
    Elsie war diejenige, die Susanne befreit hatte. Denn Elsie hatte begriffen, dass Susanne sich vor Silvester mit all seinen Erwartungen fürchtete und deshalb diese Reise vorgeschlagen hatte. Und Elsie war es auch, die bezahlte. Genau wie sie all das Essen am Heiligabend bezahlt hatte. Und den Tannenbaum, den sie gekauft und neben Birgers Fernseher gestellt hatte, trotz seiner missbilligenden Blicke. Ganz zu schweigen davon, dass sie den Boden unter dem Baum mit Paketen vollgestellt hatte. Ein Buch für Birger. Ein Päckchen Duftseifen für Birgers Mutter. Ein Seidentuch für Lydia. Und fünfzehn – fünfzehn Stück! –, fünfzehn Pakete für Susanne, Pakete, die Bücher und Pullover enthielten, Parfüms und Schallplatten, eine Bluse und eine Tasche.
    Susanne hatte diesen Überfluss mit Freude und Staunen betrachtet, aber sie hatte nicht so recht gewusst, was sie als Dank sagen oder wie sie es sagen sollte. Doch das regelte sich. Sie hatte gar nichts sagen müssen, Elsie hatte nur gelacht und geredet, hatte Seemannsgeschichten erzählt, bei denen Lydia rot wurde, Birgers Mutter kicherte und Birger selbst überrascht aufgluckste. Er verstummte gleich wieder, blieb ein Weilchen reglos sitzen und starrte vor sich hin, bis Elsie zu einer neuen Geschichte ansetzte, die ihn erneut erwartungsvoll lächeln ließ. Nach einer Stunde war alles fast wie üblich, fast so, wie es immer gewesen war an den Heiligabenden in dem roten Haus in der Svanegatan.
    Bis auf die Tatsache, dass Inez und Björn fehlten. Was wiederum bedeutete, dass doch nichts so wie immer war.
    Dennoch schien die Weihnachtsfeier alle geweckt zu haben. Als hätten sie alle geschlafen und Albträume gehabt, aus denen sie jetzt aber erwachten, sich umschauten und einsahen, ja, leider war ein Teil von dem, was sie geträumt hatten, nicht nur ein Albtraum, es war auch ein Teil der Wirklichkeit des wachen Lebens, es war Trauer, es war Angst, es war Einsamkeit, aber trotzdem hatte das wache Leben einen Trost zu bieten, einen Trost, den es im Traum nie gab. Hoffnung. Es gab die Möglichkeit, dass es besser wurde. Es konnten Zeiten der Freude, des Vertrauens, der Gemeinsamkeit kommen. Und Elsie war diejenige, die sie alle das sehen ließ, es verstehen und spüren ließ, obwohl sie natürlich kein Wort darüber

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