Eis und Wasser, Wasser und Eis
musste ich schon ganz früh losfahren …«
»Fahren?«, fragte Lydia ängstlich. »Wohin bist du gefahren?«
»Nach Lund«, erklärte Elsie. »Ins Sankt Lars.«
»Ach«, machte Lydia, und ihre Hand fuhr hoch, landete schützend oberhalb ihrer linken Brust. Ein wenig Wut machte sich in Elsies Bauch breit, aber sie schluckte rasch, um sie zu verbergen. Nichts von dem, was passiert war, war Lydias Schuld. Einerseits. Andererseits gab es das eine oder andere, woran sie tatsächlich schuld war, wofür sie zur Rechenschaft gezogen werden sollte. Aber was für einen Sinn hätte das? Lydia würde es doch nicht verstehen. Konnte es nicht verstehen. Alles, was sie ihren Kindern angetan hatte, war ja auch ihr selbst angetan worden, nur noch heftiger und schlimmer. Dennoch erlaubte sich Elsie eine kleine Bosheit.
»Ich habe Inez besucht«, sagte sie, und ihre Stimme klang trocken. »Im Sankt Lars. Sind Sie schon dort gewesen?«
Die Antwort auf diese Frage kannte sie nur zu gut, dennoch stellte sie sie. Genoss es. Lydias Blick glitt ab.
»Ich hatte keine Zeit«, sagte sie schnell. »Birger fährt ja jeden Samstag zu ihr, und da will ich doch nicht stören. Und an den Sonntagen ist es schlecht. Aufsätze müssen korrigiert werden und so. Die nächste Woche vorbereitet. Zu Weihnachten, habe ich mir gedacht … In den Weihnachtsferien.«
»Ach so«, sagte Elsie und zeigte ein schiefes Lächeln. »Obwohl es wohl auch nicht so wichtig ist.«
»Wie meinst du das?«
»Sie wird Sie sowieso nicht wiedererkennen. Allem Anschein nach hat sie mich heute auch nicht wiedererkannt.«
Lydia schluckte. Panik war in ihrem Blick zu erkennen.
»Sie hat dich nicht wiedererkannt?«
»Nein. Jedenfalls schien es nicht so. Die meiste Zeit hat sie geschrien.«
Wenn Lydia nicht so wohlerzogen gewesen wäre, dann hätte sie wohl auch angefangen zu schreien. Aber sie war ja wohlerzogen. Jetzt war sie so bestraft worden, dass sie nur dastand und ihre Tochter anblinzelte, sich zwang anzuhören, was ihre Tochter über ihre andere Tochter erzählte.
»Sie hat geschrien?«
Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.
»Ja«, bestätigte Elsie und verzog das Gesicht, um die Tränen zurückzuhalten. »Sie hat ziemlich lange geschrien. Aber dann haben sie ihr eine Spritze gegeben, und dann wurde sie ruhig.«
Die Wahrheit war, dass Inez überhaupt nicht ruhig geworden war. Sondern bewusstlos. Als es den Pflegern schließlich gelang, dieses wild starrende Wesen einzufangen, von dem behauptet wurde, es wäre ihre Schwester, dieses schreiende, fauchende und fluchende Wesen, da hatten sie sich einfach auf sie gesetzt und ihre eine Spritze in die rechte Pobacke gedrückt. Sekunden später war sie bewusstlos.
Elsie hatte anschließend mit einer Ärztin sprechen können, einer Psychiaterin mit tiefen Ringen unter den Augen und einer ziemlich müden Stimme. Sie würden es mit einem neuen Medikament versuchen, hatte sie gesagt, und sie hatten ziemlich große Hoffnungen, dass es helfen könnte. Jedenfalls nach einer Weile.
»Das ist eine sehr langwierige Psychose«, sagte sie. »Aber soweit ich verstanden habe, hat sie auch einen großen Schmerz durchmachen müssen.«
Elsie nickte schweigend. Die Ärztin beugte sich vor und verschränkte die Hände unter dem Kinn, schaute Elsie tief in die Augen.
»Das wird vorübergehen«, sagte sie. »Früher oder später wird es vorübergehen.«
Elsie blinzelte. Ihre Mutter stand etwas gebeugt an ihrer eigenen Tür, tadellos wie immer. Ihre weiße Seidenbluse sah ganz frisch gebügelt aus. Ihre schwarzen Schuhe glänzten frisch geputzt. Das Haar war sorgsam hochgesteckt, nicht eine einzige Haarsträhne hatte sich gelöst. Trotzdem sah sie ärmlich aus, müde, erschöpft und ärmlich, und plötzlich durchströmte Elsie eine Woge von Mitleid. Sie trat einige Schritte vor und legte ihre Hand auf Lydias Wange, spürte zu ihrem Erstaunen, dass Lydia sich nicht zurückzog und keinen Widerstand leistete, wie Elsie es immer erwartet hatte, wenn jemand sie berührte. Stattdessen seufzte Lydia und ließ ihren Kopf noch schwerer auf Elsies Hand sinken, ließ ihn dort ruhen, schwer und voller Vertrauen. Als würde sie Elsie vertrauen. Als würde sie wirklich glauben, dass Elsie es gut mit ihr meinte.
»Inez«, sagte sie und seufzte noch einmal. »Meine kleine Inez …«
»Mach dir keine Sorgen, Mama«, sagte Elsie vorsichtig. »Sie wird wieder gesund. Ich habe mit einer Ärztin gesprochen, und sie hat versprochen, dass Inez wieder
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