Eis und Wasser, Wasser und Eis
zu. »Sehr kalt. Wir müssen uns bewegen …«
Als sie dem Mann in der Würstchenbude zunickten, starrte er sie mürrisch an, ohne den Gruß zu erwidern. Sie gingen um den Marktplatz herum. Ganz am Ende stand ein Mülleimer, dort blieben sie stehen, stopften die letzten Reste ihrer Würstchen in sich hinein und entsorgten das Papier. Gingen weiter. Schließlich holte Susanne tief Luft. Beschloss, die schwerste aller schweren Fragen zu stellen:
»Glaubst du, dass er tot ist?«
Elsie blieb nicht stehen. Brach nicht in Tränen aus. Drehte sich nicht um und gab Susanne eine Ohrfeige. Sie ging einfach weiter, zögerte aber etwas mit der Antwort.
»Ja«, sagte sie schließlich. »Leider glaube ich das. Ich traue mich fast nicht, es zu sagen, aber es ist so. Ich glaube, dass Björn tot ist. Dass er in jener Nacht gestorben ist.«
Susanne schloss die Augen.
»Ich will nicht«, sagte sie atemlos. »Ich will nicht, dass er tot ist.«
»Ich weiß«, sagte Elsie.
»Manchmal habe ich das Gefühl, ich sehe ihn. Dass er draußen auf der Straße oder in der Schule kurz auftaucht, aber das ist ja nie er. Sondern immer ein anderer. Und dann werde ich so wütend auf ihn. Rasend vor Wut. Weil er einfach so gegangen ist, verschwunden, sich in nichts aufgelöst hat … Mich verlassen hat.«
Elsie sagte nichts darauf.
»Und ich habe Fantasien, die ich nicht steuern kann. Sie tauchen ganz von allein auf, wann auch immer, in der Schule, oder wenn ich ins Bett gehe, und manchmal merke ich das gar nicht, ich werde sozusagen in sie hineingezogen … Ich meine, ihn sehen zu können, wie er durch einen Wald geht. Oder wie er irgendwo auf einem Kiesweg steht. Oder auf einem Zaun sitzt und auf jemanden wartet. Und dann entdeckt er mich. Es ist immer das Gleiche, er entdeckt mich, und dann sagt er: Ich verzeihe dir! Du bist meine kleine Schwester, und ich verzeihe dir …«
Sie schniefte und wischte sich mit dem Handrücken die Nase.
»Aber warum soll er mir verzeihen? Das frage ich mich. Bedeutet das, dass es mein Fehler war? Wie könnte es mein Fehler gewesen sein? Ich war es doch nicht, die auf die Bühne gekommen ist und sich wie ein Idiot aufgeführt hat. Ich war es doch nicht, die die Schlägerei angefangen hat. Und ich bin doch auch nicht weggelaufen und verschwunden. Warum also ist es mein Fehler? Verstehst du das?«
Elsie schüttelte schweigend den Kopf und legte einen Arm um Susanne, drückte sie an sich, als wollte sie ihr Einhalt gebieten, aber diese redete weiter. Die Worte strömten nur so aus ihr heraus.
»Aber vielleicht meint er ja etwas anderes. Dass er mir etwas anderes verzeiht. Nur was? Ich weiß es nicht. Dass ich neidisch auf ihn war? Denn das war ich. Ich war schrecklich neidisch auf ihn, als ich klein war.«
Jetzt waren sie wieder an der Würstchenbude angekommen. Sie waren einmal um den Marktplatz herumgegangen. Der Würstchenverkäufer schaute sie an, als sie vorbeigingen, sagte jedoch nichts. Elsie sagte auch nichts. Ging nur einfach weiter.
»Das ist so lächerlich«, schniefte Susanne. »Aber als ich klein war, habe ich immer geglaubt, dass Björn etwas Besonderes an sich hätte. Dass er ein vertauschter Prinz war oder so. Und ich war ja nur ein ganz normales Kind, ich hatte nichts Besonderes an mir. Das war ja in ihren Augen zu sehen. Sie hatte einen speziellen Blick, wenn sie Björn ansah. So hat sie mich nie angesehen. Niemals! Nicht ein einziges Mal.«
»Inez?«, fragte Elsie. Ihre Stimme war so gedämpft, dass es klang, als hätte sie Angst, jemand könnte sie hören.
»Ja«, sagte Susanne. »Inez. Meine Mutter. Dabei habe ich ja nie gespürt, dass sie meine Mutter war. Auf gewisse Weise war ich genauso elternlos wie Björn. Noch elternloser als er!«
Sie hielt mitten im Gehen an, machte sich aus Elsies Arm frei, rieb sich schnell mit dem Handschuh über die Wange.
»Entschuldige. Ich wollte ja nicht …«
Elsie nickte.
»Ist schon okay. Ich verstehe, was du meinst.«
»Wirklich?«
»Wirklich.«
Sie gingen weiter, im Gleichtakt, und schwiegen eine Weile, betrachteten ein Auto, das die Storgatan entlangfuhr. Kamen noch einmal an dem Mülleimer vorbei.
»Ich glaube«, sagte Elsie schließlich. »Ich glaube, dass man sich früher oder später einfach damit abfinden muss, dass Dinge so sind, wie sie sind. Auch traurige Dinge.«
Susanne gab einen leisen Laut von sich, sagte aber nichts. Hörte einfach zu.
»Inez hat Björn geliebt. Sie hat ihn vom ersten Augenblick an geliebt. Er ist der
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