Eis und Wasser, Wasser und Eis
niemals Probleme mit der Disziplin in der Klasse hatte. Aber in den Nächten, kurz bevor sie einschlief, wurde sie zögerlich und unentschlossen, verwundert und stellte alles in Frage. Vielleicht war sie nicht einmal eine Frau. Vielleicht war sie nur ein kleines Mädchen, ein ziemlich ängstliches und mutloses kleines Mädchen, das nie wirklich begriff, was da um es herum geschah und das oft die Tränen hinunterschlucken musste.
Denn dieses Mädchen gab es immer noch, es lebte in Inez und mit Inez, versteckte sich aber sorgfältig und zeigte tagsüber nie sein Gesicht. Es sagte nie etwas, nicht einmal, wenn es dunkel war und Birger schlief. Nur die Nächte hatten Stimmungen, dort, wo die Tage Worte hatten, aber es waren die Stimmungen, die Inez zwangen, stundenlang wach zu liegen, in die Dunkelheit zu blinzeln und immer wieder zu versuchen, den Kloß im Hals hinunterzuschlucken. Sie wusste nicht, warum es so war. Wollte es auch gar nicht wissen.
Diese Nacht war es wie immer, und doch anders. Sie lauschte aufmerksamer als sonst in die Stille. Vor einer Weile hatte die Standuhr im Wohnzimmer zwölfmal geschlagen. Also musste er auf dem Weg sein, jeden Moment könnte sie die Pforte quietschen und seine Schritte auf dem Kiesweg im Garten knirschen hören.
Sollte sie aufstehen und auf ihn warten? Ihm ein paar Brote schmieren? Ihm ein Glas Milch eingießen?
Nein. Er wollte ihre Fürsorge nicht. Er würde nur wütend werden, wenn Inez in der Küche saß und auf ihn wartete, er wäre ja sogar schon wütend, wenn er wüsste, dass sie wach in der Dunkelheit lag und auf seine Schritte lauschte.
Was nur natürlich war. Das wusste sie. Es wäre das Gleiche gewesen, wenn er wirklich ihr Sohn gewesen wäre. Er war ja dabei, erwachsen zu werden, und wo er nun einmal sowieso nur ihr Neffe war, war es gar nicht anders zu erwarten. Er gehörte ihr nicht. Das musste sie im Kopf behalten. Das durfte sie niemals vergessen.
Und trotzdem gehörte er ihr. Er gehörte ihr seit dem Moment, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, an diesem regnerischen Nachmittag im April vor neunzehn Jahren, als eine aschgraue Elsie nach Hause gekommen war und ein kleines Bündel auf das Bett ihrer Schwester gelegt hatte.
»Ich will nicht«, hatte sie gesagt, während sie sich die Handschuhe auszog. »Es war ein Fehler, ihn mit hierher zu nehmen. Ich habe geglaubt, dass ich es will, aber ich will wirklich nicht …«
Sie war eine Fremde gewesen. Ein wildfremder Mensch, der nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihrer eigenen Zwillingsschwester gehabt hatte. Ihre Stimme war leise und tonlos gewesen, das Haar schlaff, der Rücken leicht gebeugt. Inez starrte sie an, aber Elsie merkte es gar nicht. Sie knöpfte sich nur den Mantel auf, zog ihn sich aus und ließ ihn fallen, strich sich mit der Hand über den Kopf, dass der zerknautschte Hut herunterrutschte und auf dem Boden landete, zog sich dann Schuhe und Überschuhe mit einer einzigen Bewegung aus und legte sich auf ihr Bett. Das seit über acht Monaten unbenutzt geblieben war.
»Ich habe geglaubt, dass ich es will«, wiederholte sie. »Aber sie hatten recht. Ich will wirklich nicht.«
Inez hatte immer noch keinen Ton von sich gegeben, sie stand stumm und reglos da und schaute zuerst ihre Schwester an und dann den sorgfältig gewickelten Kokon, der auf ihrem eigenen Bett lag. Elsie redete nicht mehr, sie hatte ein Zierkissen übers Gesicht gezogen und atmete in den braunen Stoff. Inez ließ sich auf die eigene Bettkante sinken und beugte sich ein wenig über den Kokon. Da war nicht viel zu erkennen, nur eine kleine Nase und ein paar geschlossene Augen. Ganz vorsichtig begann sie die äußerste Lage zu lösen. Es war eine blaue Wolldecke, und sie war so raffiniert gewickelt, dass man sie fast nicht öffnen konnte. Die nächste Schicht bestand aus einem grauen Tuch, auch dieses aus Wolle, aber so abgewetzt, dass Inez ihre Finger durch das dünne Gewebe erkennen konnte. Die dritte Lage bestand aus einem Baumwolltuch, einem hellblauen Baumwolltuch, das mit kleinen weißen Katzen bedruckt war. Offenbar war es neu. Sie fasste es mit den Fingerspitzen und wickelte es auf.
Er war vollkommen. Noch heute konnte sie sich daran erinnern, dass sie genau so gedacht hatte. Vollkommen. Der kleine runde Fuß mit den Perlen von Zehen. Die drallen Beinchen. Der kleine Bauch, der sich im Takt der tiefen Atemzüge des Schlafs hob und senkte. Die halb geöffneten Hände, die aussahen wie Blumen kurz vor dem Aufblühen.
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