Eis und Wasser, Wasser und Eis
sich nicht mehr dagegen, jetzt hat sie sich ein wenig zur Seite gedreht und betrachtet ihn. Das Profil ist grob, die Nase breit und stumpf, das Kinn rund und energisch. Zunächst bemerkt er es nicht, sitzt nur ruhig da und starrt ausdruckslos vor sich hin, bis sie eine kleine Bewegung macht. Da dreht er den Kopf und hält den Blick auf sie gerichtet, betrachtet sie so lange, bis sie schließlich seinem Blick ausweicht.
»Wollen wir an Deck gehen?«, fragt er dann.
Draußen ist Nacht. Eine dämmerungsgraue Polarnacht. Sie drehen langsame Runden auf dem Schiff, den Reißverschluss fast bis zum Kinn hochgezogen, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben. Bis auf leise Musikfetzen, die ab und zu aus der Bar dringen, ist es sehr still.
Jetzt weiß sie, wie er heißt. John Nordström. Als sie in ihrer Kajüte war, um ihre Jacke zu holen, hat sie die Personengalerie aufgeschlagen, die in der Mappe mit den Schiffsdaten liegt, die alle bekommen haben, und da war er. John Nordström. Professor an der Universität von Göteborg. Zwei Jahre jünger als sie.
Sie gehen im Gleichschritt, wenn auch mit einem halben Meter Abstand zwischen sich. Ihre Gummisohlen trommeln gedämpft aufs Deck. Die Daunenjacken rascheln, wenn die Ärmel am Körper entlangstreifen.
»Fast habe ich das Gefühl, ich würde dich kennen«, sagt John plötzlich.
Susanne wendet sich zu ihm um und betrachtet sein Profil. Er müsste sich mal die Haare schneiden lassen, das dichte weiße Haar steht vom Kragen ab.
»Tatsächlich?«
Er wirft ihr einen Blick zu, lächelt.
»Ich lese gern Kriminalromane.«
Ach so. Sie nickt.
»Ich verstehe.«
»Besonders deine.«
Sie lächelt ihr freundlichstes Lächeln. Das Berufslächeln.
»Danke. Das ist schön zu hören.«
Wieder wird es still. Was soll sie sagen? Sie räuspert sich:
»Und du?«
Er antwortet nicht, schweigend gehen sie eine Weile nebeneinander her.
»Du solltest etwas anderes schreiben«, sagt John plötzlich.
Susanne bleibt abrupt stehen, holt tief Luft, geht dann weiter.
»Ach ja.«
Sie hört selbst, wie das klingt. Hochnäsig.
»Etwas, das nicht unbedingt ein Krimi ist …«
»Aber du hast doch gerade gesagt, dass du Krimis magst.«
»Nicht nur.«
Er ist stehen geblieben und wühlt in seinen Taschen nach seinen Zigaretten, während er über das Eis und Wasser blickt. Susanne folgt seinen Bewegungen mit dem Blick und spürt, wie sie ein Schauer der Sucht nach mehr Nikotin durchläuft. Sie könnte ja morgen wieder aufhören. Ja. Durchaus. Aber gerade jetzt im Augenblick will sie rauchen, gerade jetzt greifen ihre Finger eifrig nach einer Zigarette in dem Päckchen, das er ihr hinhält.
»Ja«, sagt er, während er ihr Feuer gibt. »Etwas anderes.«
Die Wut durchfährt sie – Hör endlich damit auf! – , aber sie schluckt sie zusammen mit dem ersten Zug herunter. Jetzt registriert sie den Tabakgeschmack nicht mehr. Merkwürdig.
»Mal sehen«, sagt sie diplomatisch und tritt einen Schritt vor. Vorsichtig, das schon, aber trotzdem ist es ein Schritt. Er steht ein paar Sekunden reglos da und schaut auf das Grau um sie herum, bevor er ihr folgt.
»Wie kommt es, dass du hier bist?«
Sie zuckt mit den Schultern, hat plötzlich keine Lust, ihm etwas zu erzählen, schon gar nichts von Elsie, der Frau, die zur See fuhr.
»Ich habe mich um das Künstlerprogramm beworben. Und bin angenommen worden. Das ist alles.«
Sie wirft ihm einen hastigen Blick zu. Er nickt.
»Dann gibt es also einen Krimi an Bord der Oden?«
Ihre Wut fährt wie ein Zischen durch den Körper. Verfluchter Kerl! Warum kann er nicht mit dem Generve aufhören!
Sie sind jetzt an der Treppe hinauf zum Vorderdeck angekommen, und sie drängt sich schnell vor ihn, darauf bedacht, ihm den Rücken zuzukehren. Sie will nur noch zu Ende rauchen und dann zusehen, dass sie zurück in ihre Kajüte kommt. Und morgen und jeden folgenden Tag wird sie darauf achten, sich von ihm fernzuhalten. Ihre eigenen Zigaretten kaufen. Nie an seinem Tisch in der Messe sitzen. Nur aus der Entfernung lächeln und nicken.
Er geht langsam die Treppe hinter ihr hinauf, bleibt dann plötzlich stehen. Es dauert einen Moment, bevor sie versteht, warum. Stille. Einen Moment lang ist die Welt um sie her vollkommen still, kein Motorengeräusch, keine Musik, kein Laut, weder vom Wind noch vom Wasser, bis ein leiser Basston aus der Bar herausdringt und ihn dazu bringt, sich wieder zu bewegen.
»Hast du das gehört?«, fragt er.
Sie nickt, antwortet aber
Weitere Kostenlose Bücher