Eis und Wasser, Wasser und Eis
Kartoffeln schälen. Fünfzehntausend Frikadellen formen. Zwanzigtausend Brotscheiben schneiden. Millionen Liter Milch aus dem Laden holen. Jahrzehnte von Tagen, Stunden, Minuten und Sekunden leben. Sinnlos. Stumm. Tot.
Ich will nicht! Will nicht! Will nicht!
Der Schrei in ihr ließ ihre Knie weich werden, kurze Zeit fürchtete sie, mitten auf dem Bürgersteig zusammenzubrechen, doch dann bekam sie ihre Wut wieder in den Griff und zwang sich, schneller zu gehen. Wer kümmerte sich darum, was sie wollte? Niemand. Birger nicht. Lydia nicht. Susanne nicht. Björn nicht. Nicht einmal sie selbst. Sie konnte schreien und schimpfen, so viel sie wollte, sie dachte trotzdem nicht daran, aufzugeben. Einen Moment lang flatterte ein Fantasiebild vorbei, sie sah sich selbst platt auf dem Bürgersteig liegen und wie eine trotzige Zweijährige mit den Beinen zappeln. Laut schnaubte sie über sich selbst. Ja, ja. Und wozu sollte das gut sein?
Aber ich will nicht! Ich will wirklich nicht!
Inez wankte, riss sich jedoch zusammen und ging noch schneller, drängte sich mit einem entschuldigenden Lächeln an zwei alten Frauen vorbei, die Arm in Arm den Bürgersteig entlanggingen, und schob den Riemen ihrer Schultertasche hoch. Fast eine Minute verging, bis sie merkte, dass sie fast lief, und sich rasch etwas bremste. Schnell, aber nicht zu schnell. Jetzt lag die Tuppaschule vor ihr, noch so ein roter Backsteinpalast in dieser Stadt voller roter Backsteinpaläste, und für kurze Zeit ließ sie die Erkenntnis zu, dass dieses Gebäude der Ort auf Erden war, an dem sie sich am allerunwohlsten fühlte, obwohl es wie ein Märchenschloss aussah. Dann drängte sich ihr ein Tagtraum auf, sie sah sich selbst irgendwo an einem Schreibtisch sitzen, in Lund, und sie war Universitätslektorin, nein, Dozentin für Literaturgeschichte, und es war ein Samstagnachmittag, aber da sie alleinstehend war, hatte sie bereits ihre Wohnung sauber gemacht und nur ein belegtes Brot zu Mittag gegessen. Jetzt konnte sie sich den Rest des Tages ihrer Forschung widmen. Einen Moment lang überlegte sie, worüber sie wohl forschen würde, vielleicht über Selma Lagerlöf und deren zwölf Jahre in – ausgerechnet – Landskrona, schob dann jedoch diesen Gedanken beiseite und erlaubte sich einen Rundgang durch die Wohnung. Drei Zimmer, Küche, Bad nur für sie. Ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und ein Arbeitszimmer. Offener Kamin im Wohnzimmer. Ein Badezimmer mit gebügelten Handtüchern, unbenutzt und sorgsam mit ihren Initialen geschmückt. Eine kleine Lampe im Fenster des Arbeitszimmers, eine kleine dänische Lampe mit weißem, gefälteltem Schirm, die einzige brennende Lampe in der ganzen Straße …
Ach was. Sie blieb am Zebrastreifen stehen und ließ ein Auto vorbeifahren. War hatte es für einen Sinn, von einem Leben zu träumen, das nie das ihre werden würde? Sie war keine Dozentin für Literaturgeschichte und würde es auch nie werden, sie hatte ihre Entscheidung vor neunzehn Jahren getroffen, die Früchte davon genossen, und jetzt saß sie mit den Abfällen hier. Sie war Birgers Ehefrau und Susannes Mutter, Lydias Tochter und – sie verzog verächtlich das Gesicht über sich selbst – Björns Stiefmutter. Oder Tante. Eine Stiefmutter oder Tante, von der er nicht einmal besonders begeistert war. Eine, die ihn bremsen wollte, ihn festhalten, ihn zwingen, zu Hause zu bleiben und für alle Zeit das zu bleiben, was er weder sein wollte noch konnte. Ihr Sohn. Ihr eigener geliebter Sohn.
Aber er ist weg!
Sie zwang sich, die Hand zu einem Gruß zu heben, als eine Kollegin auf der anderen Straßenseite entlangging, zwang sich, zu lächeln und vollkommen unbeteiligt dreinzusehen. Die Hauswirtschaftslehrerin macht einen kräftigenden Spaziergang, bevor sie zum Markt geht, sie trägt ein hübsches Tuch von Hermès um den Kopf und eine Tasche aus echtem Leder über der Schulter. Sie hebt eine behandschuhte Hand und schenkt einer Kollegin – einer blonden Volksschullehrerin – ein freundliches, offenes Lächeln. Es durfte nicht zu erkennen sein, dass sie trauerte. Was auch immer geschah, das durfte niemand sehen. Sie schob erneut ihre Tasche hoch und forschte einen Moment lang nach ihrer Wut, blieb dann wieder stehen und wandte sich einem Schaufenster zu, verharrte eine Weile reglos und betrachtete ihr eigenes Spiegelbild, bevor ihr klar wurde, dass sich hinter der Scheibe eine Konditorei befand. Und ganz hinten sah sie einen Rücken, den sie erkannte.
Susanne.
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