Eisblumen - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners zweiter Fall) (German Edition)
betäubt gewesen sein?«
Dr. Renz verneinte. »Bis jetzt konnte ich so etwas nicht nachweisen. Das dauert länger. Haben Sie denn Medikamente im Haus gefunden?«
Judith schüttelte den Kopf. »Da muss ich passen. Ich werde bei der Spurensicherung nachfragen. Hätten Sie nach Ihren Untersuchungen einen genaueren Todeszeitpunkt für uns?«
»Wir hatten uns ja gestern schon auf den Nachmittag oder Abend des Donnerstags geeinigt. Ich fand in seinem Magen eine gut erhaltene Mahlzeit mit Zwiebeln und Bockwurst, also gehe ich davon aus, dass er, kurze Zeit bevor er umkam, zu Abend gegessen hatte.«
»Danke«, begann Judith, sich zu verabschieden. Sie sah den Rechtsmediziner lächelnd an. »Und vielen Dank für die Grüße an Thomas Ritter, ich richte sie ihm gern aus.«
~ 62 ~
Walter Dreyer setzte Judith Brunner vor ihrer Dienststelle ab und fuhr nach Wiepke zurück, um Thomas Ritter bei der Spurensicherung in Lemkes Haus zu unterstützen. Ritter konnte jetzt jede Hilfe brauchen. Außerdem war Walter neugierig, ob sein Freund schon etwas Verwertbares gefunden hatte. Judith würde weitere Beweise benötigen, um Berthold Lemke als Täter überführen zu können.
Auf ihrem Schreibtisch fand die Hauptkommissarin die Akte über die Betreuung Berthold Lemkes durch die Abteilung für die Strafgefangenenfürsorge bei der Kreisverwaltung vor. Ein umfangreiches Konvolut. Das Passfoto war nicht mehr ganz aktuell. Es zeigte einen attraktiven jungen Mann, der mit der Kamera zu flirten schien. Auf einem Deckblatt waren neben seinen Personalien die diversen Straftaten und Urteile, zum Teil mit Haftzeiten, vermerkt. Der Mann war ein Krimineller mit erheblichem Hang zu Gewalttaten. Schon als Jugendlicher hatte er andere schikaniert und verprügelt; mehrere Aufenthalte in Erziehungsheimen hatten offenbar keine Wirkung gezeigt und so hatte Lemke auch als Erwachsener weiter mit Gewalt durchgesetzt, was er an Bedürfnissen verspürte. Schwere Körperverletzung war ein mehrfach genanntes Delikt, wobei bei den Ermittlungen ein Vorsatz zwar angenommen wurde, doch nie nachzuweisen war. Neben Diebstahl und Sachbeschädigung gab es auch Mietschulden. Nach seinen Strafen waren Lemke von einer staatlichen Betreuerin jeweils verschiedene Arbeitsstellen zugewiesen worden. Niemals hatte er es aber lange ausgehalten. Offenbar gab es immer wieder Unstimmigkeiten, die zu handfesten Konflikten mit anderen Leuten führten. Einmal war Berthold Lemke beim Altstoffhandel beschäftigt, dann im Viehstall und in einer Großküche. Judith Brunner hatte hier den typischen Werdegang für einen Rückfalltäter vor sich, bei dem eine Entwicklung zum Schwerkriminellen fast zwangsläufig schien. Dabei war der Mann erst 32 Jahre alt. Sie las noch einmal einige Passagen aus diversen Berichten über die gescheiterten Versuche, den Mann zu resozialisieren. Plötzlich fiel es ihr auf: Lemkes unstete Arbeitsmoral änderte sich – wie die Straffälligkeit auch – mit seinem Umzug nach Wiepke und der Arbeit auf dem Bau. Judith Brunner war skeptisch. Nach dieser üblen Karriere sechs Jahre ohne Straftat? Das entsprach keinesfalls ihrer Erfahrung. Und auch nicht den kriminalwissenschaftlichen Erkenntnissen, das wusste sie durch viele fachliche Kontakte. Die zwei blutigen Morde und der skrupellose Mordversuch an dem Kind zeigten deutlich, wie unwahrscheinlich diese lange Pause war.
Das bedeutete nichts Gutes. Was war in diesen sechs Jahren wirklich passiert? Judith Brunner befürchtete weitere schreckliche Verbrechen. Waren die jetzigen Morde nur das Ende einer Eskalation? Das sollte sie dringend mit Fachleuten besprechen.
Zunächst musste sie sich aber erst einmal auf das bevorstehende Verhör vorbereiten.
Der Schriftverkehr in der Akte belegte, dass die Betriebe beachtliche Lohnzuschüsse bekamen, wenn sie Leute, die aus dem Gefängnis kamen, beschäftigten. Ob das Loblied von Heinz Böhme auf diese Arbeitskräfte vielleicht seinen Ursprung in den finanziellen Vorteilen hatte?, überlegte Judith Brunner.
Dr. Grede klopfte an. »Mit dem Transport von Lemke ging alles glatt. Der lässt das Ganze stoisch über sich ergehen.«
»Hat er schon was gesagt?«, erkundigte sich Judith.
»Kein Wort. Wir haben seine Fingerabdrücke zur Identifizierung genommen, aktuelle Fotos geschossen, ihm eine Tasse Kaffee gegeben und nun sitzt er und wartet.«
Judith Brunner meinte nur: »Ein wenig muss er sich auch noch gedulden. Haben Sie in Stendal etwas aus dem Gefängnis
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