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Eisblut

Eisblut

Titel: Eisblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Heib
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fehlte,
seine Wutanfälle genauso wie seine Intuition und seine unersetzliche Erfahrung.
Obwohl sie in der Bruchbude, die sie Büro nannten – eine alte
Fünf-Zimmer-Wohnung, die früher mal zur Observierung der Drogendealer gegenüber
am Schanzenbahnhof benutzt worden war – sehr beengt saßen, stand Christians
Büro seit seiner Suspendierung leer. Und keiner hätte den Frevel begangen, es
zu übernehmen.
    Pete machte seine Sache gut, aber Christian hatte sie besser
gemacht. Und insgeheim fürchteten alle, vermutlich sogar Pete, dass ihnen das
bei den nun anstehenden Aufgaben schmerzlich bewusst werden würde. Also hatten
Eberhard, Daniel und Volker hinter Petes Rücken beschlossen, alles
daranzusetzen, Christian ins Team zurückzuholen. Ihre Chancen standen nicht
schlecht. Selbst wenn Christian sich wie der sturste Bock unter der Sonne
aufführte, so war er dennoch ein geborener Vollblutpolizist, genetisch auf Jagd
programmiert. Dass Anna nun auch wieder in ihrem Dunstkreis auftauchte, konnte
ihnen nur in die Hände spielen.
    Yvonne, die in der Zwischenzeit hinausgehuscht war, kam mit einem
Teller voller Franzbrötchen, Mandelhörnchen und anderer Leckereien zurück. Sie
reichte den Teller herum und goss Kaffee ein. Eberhard nahm sich drei Teilchen.
»Mein Glykogenspeicher ist total leer, war heute Morgen schon zwölf Kilometer
joggen.« Volker wollte sich auch drei Teilchen nehmen und begründete seinen
Appetit mit seiner permanenten Geschwindigkeitsüberschreitung beim
Fahrradfahren, auch das zehre mindestens wie Joggen. Doch Yvonne klopfte ihm
auf die Finger, rationierte ihn auf ein einziges Franzbrötchen, woraufhin
Eberhard ihm mitleidig eins von seinen abgab, während Yvonne den Rest mit einem
verliebten Lächeln Daniel kredenzte. Der jedoch lehnte zu aller Überraschung ab
und klopfte sich verlegen auf die mittlere Leibesfülle. »Will ein wenig
abspecken.«
    Bevor diese Neuigkeit gebührend diskutiert werden konnte, kam Pete mit
Karen herein. Es war kein großes Geheimnis, dass die beiden seit einiger Zeit
gelegentlich miteinander schliefen, aber niemand sprach darüber. Zwischen den
beiden schien es kein emotionales Band zu geben, das über Sympathie hinausging,
ganz so, als sei Sex für sie eine Verrichtung wie Körperpflege, die das
Wohlbefinden steigerte und bestenfalls auch noch Spaß machte.
    Â»Und?«, wollte Eberhard wissen. »War Anna nun bei Frau Hamidi?«
    Pete nickte und brachte seine Kollegen auf den neuesten Stand.
    Anna schloss ihr Zimmer auf, das ihr während dieses
Semesters und vermutlich auch für einige der folgenden als Büro an der Uni zur
Verfügung stand. Es war frisch in einem harten Weiß gestrichen, klein, karg
eingerichtet, und sowohl Schreibtisch als auch Stuhl entsprachen mitnichten den
ergonomischen Anforderungen. Immerhin war der Computer einigermaßen auf dem
letzten Stand. Anna fröstelte ein wenig und drehte die Heizung auf. Letzte
Nacht hatte sie kaum geschlafen, was zum einen sicher eine Folge des Jetlags
war, zum anderen aber an ihrer Begegnung mit Frau Hamidi lag. Die Erlebnisse
der Iranerin überstiegen Annas Vorstellungskraft bei Weitem, und so sehr sie
auch versuchte, das Bild von Frau Hamidis entstelltem Oberkörper und ihrer
verstümmelten Weiblichkeit zu verdrängen, so heftig schlich es sich in die
kurzen, unruhigen Phasen des Halbschlafs. Also hatte sie dem Druck ihres
Unterbewusstseins irgendwann nachgegeben, ihr Bett verlassen und versucht, sich
dem Thema und dem damit verbundenen Schrecken zu stellen. Mehrere Nachtstunden
verbrachte sie vor dem Computer, vertieft in Recherchen über Folter im Iran und
das gezielte, institutionalisierte Quälen von Frauen. Alles, was sie fand,
speicherte sie zwanghaft organisiert ab in einem eigens dafür angelegten
Ordner. Danach war ihr übel, und an Schlaf war überhaupt nicht mehr zu denken
gewesen.
    Ich fühle mich wie gerädert, dachte sie und ließ sich auf ihren
Schreibtischstuhl fallen, der mit unsicherem Wackeln auf die Attacke reagierte.
Müde rieb sie sich die Augen. Sie wollte gleich noch das Dossier, das sie
letzte Nacht zusammengestellt hatte, mailen, dann würde sie sich ihren
eigentlichen Aufgaben zuwenden können. Dabei war ihr viel eher nach schlafen
zumute, hier und jetzt! Zu Semesterbeginn sollte sie eigentlich fit und voller
Tatendrang sein, aber dafür hätte sie

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