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Eisblut

Eisblut

Titel: Eisblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Heib
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früher aus Kanada zurückkommen müssen.
Ihre Körperuhr stand auf mitten in der Nacht, und wenn sie pro Woche Aufenthalt
in Übersee einen Tag Rückanpassung rechnete, dann würde sie in der ersten Woche
an der Uni leicht komatös auf ihre Studenten wirken.
    Anna packte ihre Tasche aus: Lehrmaterial zu dem Seminar, das sie zu
geben gedachte, ein antiquierter Füllfederhalter, Notizbuch, Kalender und ein
Diktiergerät, mehr private Ausstattung hatte sie nicht mitgebracht. Sie sah
sich um. Offensichtlich hatte die Sekretärin der Psychologischen Fakultät ihren
Wünschen entsprochen und das Büro mit der bestellten Fachliteratur bestückt.
Außerdem hing ein Porträt von Sigmund Freud an der Wand. Anna lächelte über die
mangelnde Originalität, fühlte sich aber dennoch ein wenig zu Hause. Ihr
Doktorvater, Professor Weinheim, zu dem sie seit Jahren regelmäßig zur
Supervision ging, hatte das gleiche Porträt in seiner Praxis. Über der Couch.
Wie wahrscheinlich Abertausende von Psychologen auf der ganzen Welt.
    Sorgfältig ordnete sie ihr Lehrmaterial ins Regal und ging die Liste
mit den bisherigen Anmeldungen für ihr Hauptseminar über den
Fetischismus-Begriff bei Freud durch. Man rannte ihr offensichtlich die Bude
ein, alle Plätze waren schon seit Wochen belegt. Anna war sich nicht im Klaren,
ob der Zuspruch auf ihre immer gut besuchten Gastvorlesungen zurückzuführen
war, die sie seit Jahren an der Uni hielt, auf ihre Publikationen oder etwa auf
die zweifelhafte Popularität, die sie durch ihren Ausflug in die Kriminalistik
gewonnen hatte. Es konnte ihr egal sein, immerhin war die Aufnahme ihrer
Lehrtätigkeit ein Schritt in die richtige Richtung. Nach ihrem Erlebnis mit dem
Bestatter hatte sie eine Zeitlang als Therapeutin ausgesetzt, um erst mit sich
wieder ins Reine zu kommen. Die Liebe zu und von Christian hatte ihr anfangs
sehr dabei geholfen. Sie hatte ihre Praxis wieder aufgenommen, jedoch schnell
festgestellt, dass sie ihren Klienten gegenüber argwöhnisch war und aus
übervorsichtigem Selbstschutz jegliche Empathie vermissen ließ. Ihre stabile
Verfassung war lediglich Fassade. Angst hatte sich unbemerkt in ihr eingenistet
und begann ihr schleichendes Zerstörungswerk. Schließlich verteilte Anna ihre
Klienten auf ein paar vertrauenswürdige Kollegen, schraubte das Praxisschild an
ihrem Gartentor ab und beendete damit eine berufliche Laufbahn, deren
Erfülltheit ihr immer wie ein gelebter Traum erschienen war. Es war vorbei, sie
war nicht mehr in der Lage, anderen zu helfen. Sie musste sich selbst helfen.
Als die Beziehung mit Christian immer komplizierter wurde und das Ende absehbar
war, bewarb sie sich als Dozentin, um zumindest einen äußeren stabilen Faktor
in ihrem Leben zu haben. Die Uni nahm sie mit Kusshand.
    Es klopfte an der Tür. Überrascht sah Anna hoch, noch war sie
offiziell gar nicht anwesend.
    Â»Ja, bitte?«
    Herein kam ein gutaussehender junger Mann, blond, mit einem
strahlenden Lächeln, blitzblauen Augen und sportlich federndem Gang. Offen
streckte er ihr seine Hand entgegen.
    Â»Hallo, Frau Doktor Maybach, ich bin Martin Abendroth, freut mich,
Sie kennenzulernen.«
    Sein Händedruck war entschlossen, aber nicht zu fest.
    Anna bot ihm Platz an: »Den Doktor können Sie weglassen.«
    Martin Abendroth setzte sich breitbeinig auf den Besucherstuhl und
grinste Anna an: »Gern. Sie sehen noch besser aus als auf dem Foto in Ihrem
Buch. Welches ich im Übrigen sehr erhellend fand.«
    Â»Ihr Charme ist mir zu plump. Könnten Sie bitte zur Sache kommen«,
forderte Anna den Studenten kühl auf.
    Martins Lächeln gefror eine Millisekunde, dann schaltete er auf
Sachlichkeit um: »Ich würde gerne an Ihrem Seminar teilnehmen …«
    Â»Das leider schon ausgebucht ist«, unterbrach Anna ihn kurz
angebunden.
    Sofort war Martins überlegenes Lächeln wieder da: »Zu Recht. Aber
ein Kommilitone von mir, Kevin Obermüller, er müsste auf Ihrer Liste stehen,
überlässt mir freundlicherweise seinen Platz.«
    Mit einem knappen Blick auf die Liste fand Anna den Namen. »Wie
haben Sie denn das hingekriegt?«
    Â»Wenn ich was wirklich will, bin ich unwiderstehlich«, lächelte
Martin.
    Â»Und warum wollen Sie unbedingt in das Seminar?«
    Â»Ich studiere im Hauptfach Geschichte, bin kurz vor meinem Magister,
den ich mit einer Arbeit

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