Eisblut
Er
schloss die Tür hinter sich. »Zu meiner Zeit wehte ein anderer Geist durch WGs«,
bemerkte er knapp.
Eberhard steckte mit seinen gummibehandschuhten Händen ein
rosafarbenes Heft in eine Beweismitteltüte und beschriftete sie. »FDP-Wähler,
alle beide«, bemerkte er abfällig mit einem kleinen Wink Richtung Küche und
wedelte mit der Tüte vor Petes Nase: »Ein Tagebuch. Wie schön, dass es immer
noch junge Frauen gibt, die diese Tradition pflegen.« Dann zeigte er auf die
geöffnete Schublade einer Kommode. »Schau da mal rein. Ganz hinten, unter den
Shirts.«
Pete zog sich ebenfalls Handschuhe über, schob die Shirts beiseite
und sah nach: »Wow! Und dabei soll Uta doch so verklemmt gewesen sein!« Er
blickte auf einen überdimensionierten Dildo, Handschellen und sonstiges
Sexspielzeug, das er keiner Funktion zuordnen konnte, das aber auf ein Ausleben
reger Phantasien schlieÃen lieÃ.
Das Klingeln seines Handys unterbrach die Betrachtung. Es war
Daniel, der erfreut verkündete, dass die am Plastiksack und Fuà der Leiche
gefundenen Fingerabdrücke in der Kartei gefunden worden waren. Sie gehörten zu
einem gewissen Georg Dassau, geboren 1960 in Weinheim, ehemals Arzt an der Uniklinik
in Heidelberg. Er hatte vor acht Jahren seine Approbation wegen eines
Kunstfehlers mit tödlichem Ausgang für ein kleines Kind entzogen bekommen.
Danach der bittere Klassiker: Scheidung, die Frau behielt Kinder und Haus, und
er geriet in die rasante Spirale in Richtung Bodensatz der Gesellschaft. Seit
etwa sechs Jahren wurde Dassau ohne festen Wohnsitz geführt. In Hamburg war er
vor zwei Jahren erkennungsdienstlich behandelt worden, weil er mit dem Messer
auf einen Barmann losgegangen war, der sich geweigert hatte, ihm Schnaps
auszuschenken.
»Bingo«, meinte Pete, »wir kommen, sobald wir hier in der Muster-WG
fertig sind. Sag den Kollegen vom Präsidium, sie sollen alles vorbereiten für
eine GroÃfahndung.«
Schorsch macht heute ganz neue Erfahrungen. Dabei hat er
in seinem Leben schon jede Menge Erfahrungen gemacht, gute und schlechte.
Allerdings mehr schlechte als gute, deswegen hat er ja auch mit dem Trinken
angefangen. Anfangs hat das Trinken nicht viel geholfen, aber dann hat er es
perfektioniert und zu einer gewissen Meisterschaft gebracht. Schorsch trinkt
immer, bis es Klick macht. Und sein Hirn ausgeschaltet ist. Trinken für den
Frieden nennt er das. Für den inneren Frieden. Jetzt würde er wahnsinnig gerne
was trinken. Obwohl er das Gefühl hat, dass sein Hirn schon fast ausgeschaltet
ist. Nur noch friedliche Bilder ziehen an ihm vorbei: Schorsch bekommt sein
erstes Fahrrad geschenkt, ein blaues Klapprad. Er fährt ganz stolz damit von
der Haustür weg, durch das Gartentürchen hindurch, immer geradeaus, und
schwupp, ist er auf der StraÃe, Reifen quietschen, Schorsch wird von einer
StoÃstange gestreift, und sein neues Rad hat einen Achter. Aber passiert ist
ihm nichts, und deswegen hat Mutter auch nicht geschimpft, sondern ihn
liebevoll in den Arm genommen und sein schmutziges Knie mit ihrem Taschentuch
gesäubert, das sie vorher mit Spucke benetzt hat. Schorsch muss lächeln. Er
bekommt von seinem Vater ein Eis gekauft. Es ist ein langer, heiÃer Sommer, und
Schorsch ist am Baggersee. Der Eismann ist da und verkauft aus einem rosa und
himmelblau angestrichenen Bus, von dem man auf einer Seite die obere Hälfte der
Karosserie öffnen kann, und dann steht man unter einem Dach im Schatten. Es ist
Erdbeereis, und es zerflieÃt schnell in der Hitze. Schorsch spürt, wie das Eis
seine Hand und seinen kleinen Unterarm hinunterläuft. Schorsch sieht, wie sein
erster Sohn zu Welt kommt. Er ist so winzig und über und über voll Blut.
Schorsch ist stolz und berührt und völlig fassungslos vor Glück über dieses
Wunder, das er da mit vollbracht hat, aber ihm ist auch ein bisschen schlecht
und schwummrig. Und er hört die Schreie seiner Frau. Sind es die Schreie seiner
Frau? Schorsch ist durcheinander. Er würde gerne etwas trinken. Er denkt zwar
nicht mehr, es ist eher wie im Kino, wo er auf eine Leinwand sieht und dabei
Popcorn isst, aber er ist noch da. Irgendwie. Irgendwo. In einem abgedunkelten
Zuschauerraum. Er hat solchen Durst. Ob ihm wohl jemand was zu trinken bringen
könnte? Ein Bier. Oder wenigstens eine Cola. Ihm ist heiÃ. Oder ist ihm kalt?
Es hat noch nicht Klick gemacht.
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