Eisblut
Das ist heute anders als sonst. Schorsch ist
plötzlich irritiert. Ist es überhaupt schon heute? Oder ist es noch gestern?
Und heute ist erst morgen? Ist Heute ein Tag? Oder sind Heute ein Monat, ist es
zehn Jahre? Heute sind alles, Heute ist die Ewigkeit. Schorsch ist
durcheinander. Seine Haut sieht Farben, vor allem ein schönes, körperwarmes,
sattes Rot. Das Rot kriecht über ihn wie ein lebender Purpurmantel aus Samt.
Seine Augen hören gellende Schreie, aber seine Ohren können den Geruch der
Stimme nicht zuordnen. Ist das seine Haut, die schreit? Dann macht es endlich
Klick.
»So weit, so gut«, meinte Pete, als sich die Soko am
späten Nachmittag wieder im Konferenzraum ihrer Einsatzzentrale versammelte und
Volker von seinem Unibesuch Bericht erstattet hatte. »Was haben wir? Eine
21-jährige Studentin, die missbraucht und gefoltert wurde. Eine ratlose,
verstörte Mutter, die uns keinerlei Hinweise liefert. Einen stark
tatverdächtigen Obdachlosen, der sich in Hamburg herumtreibt. Die vage These
einer AuÃenstehenden, Mohsen Hamidis Mutter, das Ganze könne irgendwie in
Richtung Iran deuten. Was ich im Ãbrigen für Quatsch halte. Aber der
Vollständigkeit halber: Wir haben einen iranischen Kommilitonen von Uta Berger
und einen iranischen Dozenten, zu dem sie allerdings nur flüchtigen Kontakt
hatte.«
Volker schob Daniel eine Liste zu: »Hier sind die Studenten und
Dozenten des Orientalistik-Instituts aufgeführt. Die Iraner habe ich
unterstrichen.«
»Ãberprüfung startet in wenigen Sekunden«, sagte Daniel.
»Wir haben auÃerdem zwei WG-Mitbewohner, die sich ebenfalls keinen Reim
auf die Sache machen können. Wollen sie im Ãbrigen auch nicht, das ist ihnen
alles zu schmuddelig.«
Karen, deren Anwesenheit bei den Konferenzen aufgrund ihrer
gelungenen Kombination aus wissenschaftlicher und intuitiver Herangehensweise
gern gesehen wurde, hob die Augenbrauen: »Schmuddelig?«
Pete winkte ab. »Hirn- und emotionsloses Pack, nicht weiter wichtig.
Uta Berger, ihre Mitbewohnerin, hat letzten Donnerstagabend gegen elf Uhr zu
ihnen gesagt, sie gehe noch kurz Kippen holen, sie nimmt den Schlüssel, wirft
eine Regenjacke über und ward nie mehr gesehen. Ken und Barbie aus der WG
haben sich kurz gewundert und dann mit achselzuckender Gleichgültigkeit
vermutet, dass Uta irgendjemanden getroffen hat. Hat sie auch. Ihren Mörder.«
»Der schnappt sie, quält, verstümmelt und tötet sie, packt sie in
einen Müllsack und legt sie vor die Sonderdeponie. Ein Schlächter mit Sinn für
speziellen Humor? Wohl kaum. Er nimmt ihre Klamotten, ihren Schlüssel, Schuhe
und vermutlich alles, was sie bei sich hatte, packt es fein säuberlich gefaltet
in ein extra Päckchen und legt es dem Müllsack bei. Was haltet ihr davon?«,
fragte Volker in die Runde.
»Die meisten sexuell abnormen Mörder behalten von ihren Opfern
irgendeinen Gegenstand, einen Fetisch, anhand dessen sie die Tat immer und
immer wieder durchleben können â¦Â«, überlegte Pete.
»Du meinst, falls unser Killer alles von Uta Berger wieder mit
eingepackt hat, dann tickt er anders, dann braucht er so was nicht?« Eberhard
wusste nicht recht, was er mit diesen Gedanken anfangen sollte. Aber er war ja
auch kein Profiler. »Noch mal für Doofe. Vielleicht ist er kein Fetischist.
Aber warum macht er ein so ordentliches Klamotten-Beipäckchen?«
»Er ist sehr vorsichtig und kennt die typischen Fehler. Jedes Teil
vom Opfer, das in seinem Besitz bleibt, kann ihn verraten«, spekulierte Volker.
»Warum schmeiÃt er den ganzen Kram dann nicht weg?«, widersprach
Eberhard Volkers These.
»Hat er doch. Genauso wie die Leiche. Sondermüll.«
Eberhard gab Volker recht.
»Leute, vergesst nicht die Brustwarzen«, warf Karen trocken ein,
»die fehlen.«
Die Männer verstummten plötzlich. Diese grauenvolle Tatsache hatten
sie nicht vergessen, sie hatten sie verdrängt.
Daniel, in seiner Beraterfunktion als »Hacker« der einzige ohne
Polizeiausbildung, konnte mit diesen Details seines Jobs nicht gut umgehen. Er
trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte und starrte den Bildschirm
seines Laptops an, das er wie immer vor sich stehen hatte. Zu seiner
Erleichterung ging gerade eine Mail ein, die ihn ablenkte.
»Vielleicht ist unser Mörder zwanghaft akribisch. Oder man hat
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