Eisblut
erschwerten ihnen die Sorglosigkeit, an die sie sich klammerten, immer
mehr. Das abgeschaltete Handy, der Vandalismus in Martins Apartment, die
Fahndung der Polizei, ein diffuser Zusammenhang zu einem Mord ⦠langsam wurden
sie nervös, riefen jede Stunde bei Pete an und begannen, detaillierte Fragen zu
stellen. Pete hielt sich bedeckt, doch aufkeimendes Misstrauen vergiftete die
Gesprächsatmosphäre, und es stand zu befürchten, dass Martins Eltern, falls er
sich denn bei ihnen meldete, die Polizei nun nicht mehr über das Auftauchen
ihres Sohnes informieren würden.
Als Anna Kaffee eingoss und sich zum Frühstück hinsetzen wollte,
klingelte ihr Telefon. Sie seufzte, zögerte und ging ins Wohnzimmer. Christian
hörte sie sprechen, sie sagte nicht viel. Kurz darauf kam sie in die Küche
zurück, nahm im Stehen ein paar Schlucke von ihrem Kaffee und meinte: »Ein
schnelles Croissant passt noch. Den Rest essen wir später. Elbe ist auch
verschoben. Wir müssen in die Imam-Ali-Moschee. Das war Frau Hamidi. Mohsen ist
zurück und will mit uns reden.«
Es war nicht weit bis zur Moschee, nur einmal um die Nordspitze der
Alster herum bis zur »Schönen Aussicht«. Die blaue Moschee war durch ihre
Kuppel und ihre markanten Minarette weithin sichtbar und gehörte längst zum
Hamburger Stadtbild. Dennoch waren weder Anna noch Christian je drin gewesen.
»Wundervoll«, meinte Anna, als sie davorstanden. »Wenn die Sonne
scheint, leuchtet und schimmert das helle Blau sicher wie der Himmel selbst.«
Christian stimmte zu: »Die Moslems haben schon phantastische
Paläste, Gotteshäuser und Bibliotheken gebaut, als wir hier in Europa noch in
schmutzigen Windeln auf Bäumen saÃen und Misteln schnitten für irgendeinen
Zaubertrank.«
Anna lachte. »Ganz so ist es wohl nicht. Aber trotzdem schade, dass
die Entwicklungen unserer Kulturkreise so wenig parallel und immer unter Streit
verlaufen sind. Vielleicht würden wir uns heute besser verstehen.«
»Daran sind seit knapp tausend Jahren die Kreuzritter schuld. Damals
wie heute. â Gehen wir rein?«
Ein Angestellter der Moschee brachte sie durch den Innenhof in einen
Seitentrakt, wo Frau Hamidi mit Mohsen im Büro des Ayatollahs auf kunstvoll
bestickten Sitzkissen saà und Tee trank. Mohsen war ein Bild des Schreckens. In
den wenigen Tagen seiner Abwesenheit hatte der bisher schon schlanke Mann noch
etwa weitere zehn Kilo verloren, seine Augen lagen dunkel und stumpf in den
Höhlen, der Blick flackerte unruhig hin und her. Seine Hände konnten kaum das
Teeglas halten. Frau Hamidi wirkte ruhig und beherrscht. Auch wenn Mohsens
Anblick Anlass zu groÃer Sorge bot, so spürte man doch ihre Erleichterung
darüber, dass er überhaupt zurückgekehrt war.
Mohsen erhob sich mit wackligen Beinen, begrüÃte Anna und Christian
und bot ihnen Platz an. Frau Hamidi goss zwei Teegläser ein und reichte sie
ihren Gästen. Sie wartete höflich, bis alle einige Schlucke getrunken hatten,
dann begann sie zu sprechen: »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Wir wissen
nicht, ob das, was Mohsen Ihnen nun erzählen wird, für Sie von Belang ist. Das
müssen Sie selbst beurteilen. Mein Sohn ist letzte Nacht aus dem Iran
zurückgekommen. Er hat Schuld auf sich geladen und sich deshalb auf mein
Anraten hin unter den Schutz der Moschee und unseres Ayatollahs hier begeben.
Im Iran wurde eine Fatwa gegen meinen Sohn ausgesprochen, ein Gerichtsurteil,
das seinen Tod verfügt. Unser Ayatollah hier ist ein Mann von groÃem
Gerechtigkeitssinn und ebenso groÃem Einfluss. Wir hoffen, er kann die Fatwa
umwandeln.«
Frau Hamidi schwieg und sah Mohsen auffordernd an. Mohsen nickte ihr
dankend zu. »Wie Sie vermutlich wissen, bin ich in den Iran gereist, um
Menschen zu finden, die in der Vergangenheit Schlimmes getan haben, was meiner
Mutter und damit meiner Familie unendlichen Schmerz und unsägliches Leid
zugefügt hat. Mein Onkel in Teheran hatte schon seit Jahren nach den
Missetätern geforscht und eine Akte angelegt. Er hat nichts Konkretes
unternommen, weil ihn meine Mutter darum gebeten hatte und er Sorge um seine eigene
Familie hatte. Als ich nun kam, hat er mir die Akte übergeben. Drei Männer, die
damals in die Geschehnisse verstrickt waren, hat er ausfindig gemacht. Einer
war im ersten Krieg gegen den Irak gefallen, der zweite bei einem
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