Eisblut
und
Gefängnisverwaltungen, und sie nutzen die Macht dieser Institutionen für die
eigenen illegalen Zwecke.«
Walter nahm einen Schluck von seinem Cognac, aber er schien ihn
nicht zu genieÃen. Keiner sagte etwas, denn Walter war noch nicht fertig mit
seinem Vortrag: »Es gibt weltweit zwei Arten von Staaten, in denen gefoltert
wird. Die einen bestreiten diesen Umstand rigoros, die anderen bemühen sich um
seine Legitimation. Israel ist auf dem Wege von einem leugnenden zu einem
legitimierenden Staat. Das ganze Problem ist aber wahrlich kein israelisches,
sondern das eines jeden Rechtsstaates, der versucht, sich mit legitimen Mitteln
gegen Bedrohungen von auÃen zu wehren. Irgendwann bleibt die Legitimität auf
der Strecke. Was hätten Sie denn anstelle des Frankfurter Kollegen getan, der
einen Entführer vor sich sitzen hatte, der den Ort nicht verraten wollte, an
dem ein kleiner Junge seinem baldigen Tod entgegensah?«, wandte sich Walter an
Christian.
»Ich hätte meine Androhung von Gewalt nicht öffentlich zugegeben«,
antwortete Christian. »Sie sind im Ãbrigen bestechend gut über das Thema
informiert.«
»Walter gehört zur aussterbenden Spezies der Universalgelehrten.
Aber trotzdem, ich bin auch überrascht«, stimmte Anna zu, »Gewalt war für
meinen Vater zwar schon immer ein Thema, aber ich dachte bislang, dass seine
Beschäftigung damit rein praktischer Natur sei.«
Walter sah Christian an, der den Blick ungerührt erwiderte. Da
begriff Walter, dass Christian Bescheid wusste. Es war, als sei ihm plötzlich
das Gesicht entrissen worden, er war kein Universalgelehrter mehr, er war nicht
mehr Herr in einem noblen Haus, er war nicht mehr als ein gewalttätiges
Schwein, er lag bloÃ, ein unversehens Vertriebener aus dem Paradies, der sich
plötzlich seiner Nacktheit bewusst wird und Scham empfindet.
»Es ist die Angst«, meinte Evelyn leise, »es ist die Angst, die den
Menschen entmenschlicht. Dadurch wird er zum Tier.«
Walter schüttelte den Kopf: »Bewahre dir deinen Glauben, Evelyn,
aber der Mensch, der Grausames tut, tut es nicht gegen seine Natur. Der Mensch
ist das Untier. Der Mensch ist eine Bestie. Das siehst du doch auch so, Anna?«
Er stand auf, aschfahl im Gesicht, und ging hinaus.
Evelyn sah Anna vorwurfsvoll an: »Du musst dich bei deinem Vater
entschuldigen.«
»Ich denke nicht mal im Traum daran.«
»Wenn du dich nicht mit ihm versöhnst, wird in dieser Familie nie
Frieden herrschen. Und auch du wirst keinen finden.«
Eine halbe Stunde später befanden sich Anna und Christian
auf dem Rückweg in die Stadt. Christian sprach kein Wort, während Anna den
Wagen durch den Verkehr lenkte.
»Du bist so still.«
»Ich denke nach. Ãber dein seltenes Talent, Menschen mit wenigen
Sätzen mundtot zu machen.«
Anna fuhr auf: »Ach, jetzt bin ich schuld? Ich soll Rücksicht nehmen
auf meinen armen, alten, hilflosen Vater?«
»Vielleicht musst du die Frage nach der Schuld nicht immer in den
Mittelpunkt rücken.«
»Jetzt komm mir bloà nicht psychologisch!«
»Tu ich nicht.« Christian grinste. »Du bist einfach nur ein ganz
garstiges Biest. Ich liebe dich.«
Anna wandte den Kopf und lächelte ihn an: »Tust du das?«
»Ja«, sagte er. »Und jetzt achte bitte auf die StraÃe!«
Anna lieà Christian an der Einsatzzentrale im Schanzenviertel raus.
Sie wollte noch bei Yvonne vorbeifahren, um nach ihr zu sehen, und dann nach
Hause, ihre nächste Vorlesung vorbereiten. Am Abend würde Christian zu ihr
kommen, falls es keine neuen Entwicklungen in Sachen Abendroth gab.
Bislang gab es die nicht. Volker und Pete waren bei der
Familie Abendroth gewesen, doch weder Vater noch Mutter wussten etwas über den
Verbleib ihres Sohnes zu sagen. Sie hatten sich erschüttert gezeigt über den
Tod der jungen Studentin und hofften, dass ihr Sohn, den sie offensichtlich
sehr liebten, etwas zur Aufklärung des schrecklichen Verbrechens würde
beitragen können. Pete hatte ihnen erklärt, dass Martin dringend als Zeuge
gesucht wurde, woraufhin die Mutter bei allen ihr bekannten Freunden und
Freundinnen von Martin angerufen hatte. Ohne Erfolg. Keiner hatte ihn in den
letzten vierundzwanzig Stunden gesehen. Nicht ganz ohne Stolz vermeldete der
Vater, dass sie natürlich nicht alle Freunde und vor allem Freundinnen von
Martin kennen
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