Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eischrysanthemen

Eischrysanthemen

Titel: Eischrysanthemen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Murasaki
Vom Netzwerk:
wegzulaufen.“
    Überrascht hielt Vincent mit dem Streicheln inne und sah zu Kira hinunter, dessen Augen geschlossen waren.
    „Ist er wieder – “, begann Vincent und versuchte die richtigen Worte zu finden, wurde aber gleich darauf von Kira unterbrochen.
    „Nein. Er ist nicht wiedergekommen und auch, wenn meine Eltern am Anfang noch gehofft hatten, dass er vielleicht zurückkehren würde, so waren sie irgendwann dankbar dafür, dass er es nicht tat.“ An dieser Stelle hob er den Kopf und blickte in Vincents Gesicht, der nichts verstand.
    „Aber warum?“, fragte Vincent sanft nach, weil er langsam das Gefühl bekam, dass Kira sich das alles von der Seele reden wollte. Tatsächlich lehnte Kira die Stirn an Vincents Brust, bevor er das Wort abermals ergriff.
    „Du weißt wirklich nicht sehr viel über die japanische Kultur“, murmelte er, und es klang ein wenig bitteramüsiert. „Es gibt noch immer Familien, die großen Wert auf Traditionen legen, und sie erwarten, dass ihre Kinder sich diesen Traditionen fügen. Mein Bruder wollte es nicht, aber anstatt einen Kompromiss mit ihnen zu finden, lief er einfach davon.“ Leichter Ärger schwang in Kiras Worten mit, als er sich auf den Rücken drehte und an die Decke blickte. „Meine Eltern haben erst versucht, ihn zu finden, aber irgendwann gaben sie es auf und zogen vor, so zu tun, als wenn es ihn nie gegeben hätte. Du kannst es dir nicht vorstellen, aber für sie war es eine Schande, dass er ihre Erwartungen enttäuscht hatte. Damit hatte er die Tradition mit Füßen getreten, die meine Eltern aufrecht erhielten. Hätte er Selbstmord begangen, hätten sie damit besser umgehen können. Als Europäer kannst du das nicht verstehen ... Gehorsam gegenüber den Eltern ist in Japan oft noch sehr wichtig. Irgendwann sprachen wir überhaupt nicht mehr über ihn. Nachdem sie beschlossen hatten, dass ich Schauspieler werden sollte, bestand mein Leben nur noch aus Schule und Tanzunterricht.“ Verbitterung schwang in seinen Worten mit, was Vincent einen Moment zögern ließ. Sollte er tatsächlich weiterbohren?
    „In Japan gibt es ein Sprichwort, dass ein vorstehender Nagel eingeschlagen werden muss. Ich war so ein Nagel, nachdem die Entscheidung gefallen war. Während meine Freunde sich auf die Aufnahmeprüfungen an weiterführenden Schulen vorbereiteten, stand das für mich nicht zur Debatte. Nach und nach verlor sich der Kontakt, bis nur noch das Theater in meinem Leben Platz hatte.“
    Vincent spürte, wie die Stimmung zu kippen drohte, und fühlte sich hilflos in der Situation, die er doch selbst heraufbeschworen hatte.
    „Aber deine Eltern sind doch sicherlich sehr stolz auf dich, dass du nun ein so erfolgreicher Schauspieler geworden bist“, versuchte er das Positive herauszukehren, ohne zu ahnen, dass er damit in ein Fettnäpfchen trat.
    „Sie waren sehr stolz“, korrigierte ihn Kira. „Sie sind vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie hatten einem betrunkenen Autofahrer nicht ausweichen können.“
    „Das tut mir leid“, sagte Vincent ein wenig unsicher, weil ihm nun wirklich klar wurde, was für ein unpassendes Thema er gewählt hatte. Wie er da jedoch wieder herauskommen sollte, wollte ihm beim besten Willen nicht einfallen. Als Kira die Hand über die Augen legte, griff Vincent nach dieser, weil er glaubte, dass Kira weinen würde. Doch er sah keine Tränen.
    „Es ist lange her, und ich habe meinen Frieden damit gemacht, soweit es eben ging. Aber in meinen Augen ist es dennoch nichts, was ich in einem Interview breittreten möchte.“
    Das war eine logische Erklärung, und Vincent zog Kira wieder eng in seine Arme, weil ihm keine Erwiderung darauf einfiel.
    „Du hast mir noch immer nicht gesagt, warum du so hartnäckig versucht hast, ein Interview von mir zu bekommen“, erinnerte ihn Kira nach einer Weile des Schweigens und riss Vincent damit aus seinen Gedanken.
    „War es eine Wette?“
    Ungewollt musste Vincent bei der unschuldigen Frage lachen.
    „Nein, nein ... Es ist nur ... Ich habe dir doch davon erzählt, dass ich keine Festanstellung habe und Mr. Ferrys, der Redakteur eines Kulturmagazins, versprach, dass ich ... einen festen Job erhielte, wenn ich ein Interview von dir bekommen würde. Darum habe ich nicht locker gelassen.“ Vincent fand, dass es sich nun lächerlich anhörte, und zwar wie ein Witz oder eine blöde Wette, bis ihm der schreckliche Gedanke kam, dass Kira glauben könnte, dass er nur ihm geschlafen

Weitere Kostenlose Bücher