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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Rennefanz
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Filmstar, der nebenbei auflegt. Die trostlose Theke verwandelte sich in eine wilde Bar, an der Drogen in die Drinks gekippt wurden, die unsere Rivalinnen müde und hässlich machten. Die Abende waren eigentlich nie langweilig.
    Wie jedes Mädchen in den neunziger Jahren himmelte ich den DJ an. Er war blond, hatte etwas längeres Haar und kam aus Berlin. Berlin!
    Die Stadt war zwei Stunden mit dem Zug entfernt und für uns sehr weit weg. Dort war das Leben. Der DJ stand erhöht auf der Bühne hinter einem Pult. In seinem Mund hing eine Zigarette. Wenn man sich ein Lied wünschen wollte, musste man zu ihm hinaufklettern und ihm den Titel ins Ohr flüstern. Er entschied, ob er den Wunsch erfüllen würde oder nicht. Er war der Star des Eastside .
    Ich konnte Stunden damit verbringen zu überlegen, was ich mir wünschen sollte. Bevor ich das Treppchen hinaufstieg, atmete ich tief durch und zählte bis zehn. Einerseits hielt ich mich für reif, andererseits traute ich mich nicht, mit dem DJ zu reden.
    In Berlin war damals alles offen und chaotisch, eine neue Musik entstand, Techno. Aber der DJ in Eisenhüttenstadt spielte die Playlist eines Achtziger-Jahre-Kindes, das nicht erwachsen werden will: ABC , New Order, Depeche Mode, The Smiths. Er spielte die Musik, als stünde er im Radiostudio, hinter jedem Lied machte er eine Ansage, immer mit den gleichen Worten. Und jetzt, Pause, ein Lied für Claudia, »The Look of Love« von der wunderbaren Band ABC !, Und jetzt, Pause, ein echter Klassiker, »Blue Monday« von New Order aus Manchester!
    Marlene und ich spezialisieren uns darauf, die Songs schon an den ersten Rhythmen zu erkennen.
    Langsam erweiterte sich mein Musikgeschmack. Ich entdeckte The Sisters of Mercy. Ich mochte das Düstere, das Aggressive, dazu die dunkle Stimme von Andrew Eldritch. Meine Freundin und ich kürten »Temple of Love« zur Hymne des Eastside , wir konnten den Text irgendwann auswendig und sangen ihn laut mit. Wir ließen uns von der Musik treiben.
    Die cooleren Jungs tanzten auch zu den Sisters. Sie kamen meist an Donnerstagen. Sie trugen Schwarz und waren toll aufgestylt, mit engen Hosen und spitzen Schuhen, die Haare trugen sie wie Dave Gahan von Depeche Mode. Sie stürmten auf die Tanzfläche, wenn »Tainted Love« von Softcell gespielt wurde. Dann pustete die Nebelmaschine dicke weiße Flocken auf die Tanzfläche. Todesmutig sprach meine Freundin den Kleinsten aus der Gruppe an. Er nahm sie später mit nach Hause. Er hatte keinen Job, aber eine Band. Eine Depeche-Mode-Cover-Band in Frankfurt/Oder.
    Ich erinnere mich an einen Abend, Marlene war beschäftigt, ich saß allein da und ließ mich von dem Versicherungsvertreter zu einem Kirschsaft einladen. Er setzte sich neben mich und blies mir Rauch ins Gesicht. Ich fand das albern und wollte erst aufstehen, dann zog er an meiner Hand und ich setzte mich wieder. Er erzählte von seinem Leben als Versicherungsvertreter. Er war 25 und doch kein Westler.
    Ich war enttäuscht.
    Ich hatte unbedingt einen Westler kennenlernen wollen. Er war Dreher wie mein Vater und hatte seine Arbeit im EKO verloren. Wie Tausende andere damals. Er hatte kein Büro, sondern musste von Tür zu Tür gehen. Er bekam nur Geld, wenn er Policen verkaufte. Er sagte, er macht sich Sorgen, weil er noch keine Police verkauft hatte und wahrscheinlich bald wieder bei seiner Mutter einziehen müsste. Er hatte schwarze Haare, braune Augen. Er war der mit den weißen Cowboystiefeln.
    Irgendwann versuchte er, mich zu küssen. Er steckte seine Zunge in meinen Hals, so dass ich dachte, ich muss würgen, aber ich würgte nicht und fühlte mich auf einmal sehr erwachsen. Es war mein erster Kuss. Der Mann fragte mich, ob ich mit zu ihm komme, und ich sagte nein.
    Um Mitternacht lag ich im Wohnheim im Bett. Ich bereute meine Entscheidung. Vielleicht war das meine letzte Chance für ein Rendezvous? Über dieser Frage schlief ich ein. Love is always over in the morning.
    Meine Freundin und ich verarbeiteten unsere Erlebnisse allein. Vielleicht war unsere Internatssituation speziell, doch auch anderswo ließen die Eltern in jener Zeit ihre Kinder aus den Augen. Wir wurden Waisen.
    Wenn ich müde war, ging ich manchmal nicht in die Schule und schrieb mir selbst eine Entschuldigung. Als meine Noten ein wenig schlechter wurden, begründete ich das mit dem Druck in der Schule, mit dem neuen westlichen System. Meine Eltern waren damit zufrieden.
    Der Druck war weg, aber was man mit der neuen

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