Eisenkinder
Deutschland stehe nach der Wende an einer ähnlichen Stelle wie Amerika 1830, es war ein aufgewühltes, neues Land, das neue Götter brauchte.
Die Mormonen hatten strenge Regeln. Jim und Michael wollten bald heiraten und dann viele Kinder mit einer anderen Mormonin zeugen. Sie sagten, dass ein Mormone nur einen anderen Mormonen heiraten darf. Früher sei es erlaubt gewesen, mehrere Frauen zu haben, aber das sei nun leider verboten. Joseph Smith soll 27 Frauen gehabt haben. Ich hörte ein leichtes Bedauern in Jims Stimme.
Ich glaubte ihnen, dass diese Polygamie-Zeit vorbei ist. Ich schaute mir die beiden an, sie waren eigentlich recht attraktiv. Ich dachte darüber nach, wie es wäre, Mormonin zu sein. Vielleicht würde ich Jim oder Michael heiraten und in eine amerikanische Kleinstadt nach Utah oder Illinois ziehen und viele Kinder bekommen. Ich stellte es mir schön vor, irgendwo dazuzugehören. Als ostdeutsche Mormonin in Salt Lake City.
Habt ihr Freundinnen?, fragte ich. Nein, sagten sie. Das wäre nicht erlaubt während des Missionsjahres. Da gebe es ein Gelübde. Ich war enttäuscht, als ob ich mir ein bisschen Hoffnungen gemacht hätte.
War ich wirklich so naiv? War ich so leicht zu beeindrucken? Ein bisschen Freundlichkeit, ein bisschen internationales Flair, und dafür hätte ich meine Seele an irgendeinen Sektenführer verkauft?
Meine Freundin starrte die beiden die ganze Zeit nur an, sie lächelte nicht, sie stellte keine Fragen, sie saß mit verschränkten Armen da. Am Ende forderte sie die beiden auf zu gehen. Es gäbe nichts mehr zu bereden. Ich war erst wütend auf meine Freundin, ich hätte gerne noch weitergeredet, aber insgeheim war ich auch ein bisschen erleichtert.
Wir sahen Jim und Michael manchmal auf der Straße wieder und grüßten sie freundlich. Ich hörte, dass sie Englischkurse anboten.
In Eisenhüttenstadt öffnete eine Disko, das Eastside . Meine Freundin und ich rannten da drei Tage die Woche hin und suchten weiter. Jedes Mal, wenn wir durch den Eingang in den dunklen Saal kamen, spürten wir eine Gänsehaut. Allein die Vorstellung, dass etwas passieren könnte, war aufregend genug.
Wir wussten selbst nicht genau, was wir erwarteten, aber wir waren mit einer Hartnäckigkeit von Forschern dabei.
Das Eastside war eine leere Halle, die mit wenig Aufwand umfunktioniert worden war. Am hinteren Ende stand eine Bühne, davor lag eine kleine Tanzfläche, mit bunten Platten, die aufleuchteten, eine Nebelmaschine gab es auch. Aber die wurde nur am Donnerstag, Freitag und Samstag angemacht. Rund um die Tanzfläche standen Stühle und Tische, als würden mehrere Schulklassen erwartet, die aber niemals kamen. Viele blieben unbesetzt.
Wir setzten uns an einen Tisch und warteten. Gegen zehn füllte sich der Laden etwas. Die Tanzfläche füllte sich mit Hausfrauen, die sich zu Modern Talking hin und her schoben. Die Männer: Sonnenbankgebräunte Prolls. Jungs in Stonewashed-Jeans-Anzügen. Einer trug zum Anzug weiße Cowboystiefel. Die, die Anzug trugen, das waren die Westler, die Versicherungsvertreter.
Mormonen und Versicherungsvertreter, das waren die einzigen Westler, die nach der Wende in unser Niemandsland fanden. Und beide trugen Anzüge und Krawatten. Wie eine Uniform, ein Anstrich von Bürgerlichkeit, damit konnte man die Ostler beeindrucken.
Die Männer kamen in Dreier- und Vierergrüppchen, die guckten, wir guckten zurück. Ein Spiel, das ewig laufen konnte.
Wir hatten diesen Blick perfektioniert, bei dem man so aussieht, als ob man in die Leere starrt und gar nichts mitkriegt, aber trotzdem den Raum erfasst und genau sieht, wer wo sitzt und wer was bestellt.
Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns besonders gestylt hätten. Nicht wie die Mädchen heute. Wenn ich mich schick machen wollte, zog ich einen anthrazitfarbenen eng anliegenden Rollkragenpullover an. Meine Freundin trug manchmal eine durchsichtige weiße Bluse, durch die man ihren BH sah. Sie lächelte, wenn die Männer sie anstarrten.
Ich bestellte einen Kirschsaft und einen Bananensaft. Ich muss fast lachen, wenn ich daran denke. Unsere Saft-Obsession. Ich war verrückt nach Kirschsaft. Alkohol tranken wir nie oder nur ganz selten.
Wir hielten uns an einem Glas Saft fest und dachten uns Spitznamen für die Gäste aus. Wir schufen uns eine Parallelwelt.
Wir träumten, wir wären in einer anderen Stadt, einer Fantasiestadt. Den Sonnenbank-Prolls gaben wir Namen wie Dave oder Angelo, den DJ machten wir zu einem
Weitere Kostenlose Bücher