Eisenkinder
könnte nicht schaden, etwas über politische Systeme zu lernen. Unter »Berufsaussichten« stand, dass laut einer Studie ein Drittel aller Abgänger von 1988 Taxifahrer wurden. Die Aussicht, zur Not in Berlin Taxi zu fahren, machte mir ein wenig Angst, aber hielt mich nicht ab.
Im Herbst 1993 schrieb ich mich an der Freien Universität Berlin ein, am Otto-Suhr-Institut . Ich hatte keine Ahnung vom Mythos des Osi , wie die Studenten das Institut nann-
ten.
1968 hatten die Studenten eine radikale Hochschulreform angetrieben, bei Demonstrationen gegen den Staat waren sie vorn dabei und träumten vom Sozialismus. Anfang der neunziger Jahre hatte das Institut seine besten Zeiten hinter sich. Die Jüngeren, die jetzt herumliefen, plapperten die Slogans der 68er nur nach. Man verehrte Rudi Dutschke, man hasste den Springer-Verlag, man kaufte im Dritte-Welt-Laden.
Wenn man in der DDR aufgewachsen war, sagte einem der Name Rudi Dutschke zunächst nichts. Ich kannte Tamara Bunke, die Gefährtin von Che Guevara, die in Eisenhüttenstadt Abitur gemacht hatte, oder Juri Gagarin, den ersten Mann im All, aber nicht Rudi Dutschke und die 68er.
Das Land, das jetzt meins war, kam mir ziemlich fremd vor.
Ich bezog ein Wohnheimzimmer in Berlin-Lichtenberg. Zur Universität brauchte man eine Stunde mit der U-Bahn, aber ein näheres Zimmer gab es nicht. In meinem Zimmer standen ein Schrank, ein Schreibtisch, ein Bett. An der Wand hingen keine Bilder, nicht von meinen Eltern, nicht von meinen Geschwistern und nicht von Freunden.
Es war so unpersönlich wie ein Hotelzimmer. Als wäre ich allein auf der Welt.
Es fiel mir schwer, mich an die Stadt zu gewöhnen. Alles schien voller unfreundlicher, graugesichtiger Personen.
Ich sah Menschen allein in Cafés sitzen, mit einem Buch in der Hand. Wie machen die das? Woher haben sie die Kraft?
In einem Erstsemesterseminar zur politischen Theorie saßen lauter Schwaben und Bayern und redeten so eloquent über Hegel, Weber und Kant, dass ich den Eindruck hatte, sie wüssten schon alles, als hätten sie schon alles gelesen. Sie meldeten sich dauernd und diskutierten mit dem Professor. Ich saß stumm mittendrin und verstand kein Wort. Ich verstand die Sprache nicht, in der meine Kommilitonen redeten, und ihr zur Schau gestelltes Selbstbewusstsein erschien mir zu aufdringlich. Nach dem Seminar rannte ich in die Bibliothek, um Bücher von Max Weber auszuleihen. Ich ging zur Uni, wie ich früher zur Schule gegangen war. Ich versuchte herauszufinden, was in der nächsten Klausur gefragt war, und lernte das auswendig.
Ich erinnere mich weniger an Ereignisse als an ein Gefühl: die Angst hängenzubleiben, mich nicht zu verbessern. Jeder Tag, an dem ich nichts lernte, jeder Tag, an dem ich kein Geld verdiente, war ein verlorener Tag. Zeit war mein Feind. Ich war 19 Jahre alt.
Anderen Studienanfängern mag das ähnlich gegangen sein, auch wenn sie nicht in der DDR aufgewachsen sind. Massenunis und ihre Anonymität können einschüchtern. Doch für mich war es die erste, prägende Begegnung mit einer westdeutschen Institution. Ich dachte, alle Unis sind so: kalt, unpersönlich, unübersichtlich. Der Studienstart an einer Massenuni in der größten Stadt Deutschlands schien mir ein Symbol für mein neues Leben.
In meinem Tagebuch notierte ich mir das, was ich für die Regeln in der Bundesrepublik hielt:
Man muss kämpfen, Ellenbogen ausfahren, oberflächlich sein, nicht so viel nachdenken. Jeder kämpft für sich!
Leistung allein genügte nicht mehr, es wurde wichtiger, sich gut zu verkaufen und durchzusetzen.
An eine Unterhaltung erinnere ich mich besonders, weil sie mich auf Jahre danach prägte.
Ich kam in der Mensa mit einer Kommilitonin, die auch Politik studierte, ins Gespräch. Sie stammte, das verriet ihr Dialekt, aus Süddeutschland. Als sie hörte, dass ich aus dem Osten kam, platzte sie heraus: »Und, waren deine Eltern auch bei der Stasi? Wie war das, bespitzelt zu werden? Hattet ihr Angst? Waren die wirklich gefährlich?«
Ich war solche direkten Fragen nicht gewöhnt und fühlte mich sofort angegriffen. Und ich fand es merkwürdig, dass die Kommilitonin über meine Eltern reden wollte. Was hatte ich mit meinen Eltern zu tun? Vor der Wende hatte mich nie jemand nach meinen Eltern gefragt. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass es in der DDR keine soziale Ungleichheit und keine Statusunterschiede gab, aber Herkunft war nicht so wichtig. In dem neuen Staat entschied die Herkunft
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