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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Rennefanz
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über den Aufstieg, wen man heiratete, mit wem man befreundet war. Das Klassensystem war nicht so offensichtlich wie in England, wo man die feinen Leute schon daran erkennt, ob sie ihr Bad »loo« oder »bathroom« nennen, aber wer damit aufgewachsen war, orientierte sich daran.
    Eine Schulfreundin erzählte mir, dass sie am ersten oder zweiten Tag an der Humboldt-Universität von einer Frau angesprochen worden sei: »Mein Vater ist der Manager bei einem Bundesliga-Fußballverein. Und was machen deine Eltern?« Als meine Freundin erwiderte, ihr Vater sei Ingenieur in Eisenhüttenstadt, wandte sich die Fußball-Managertochter ab.
    Ich antwortete schließlich, dass meine Eltern nicht bei der Stasi gewesen wären und dass ich auch niemanden persönlich kennen würde, der bei der Stasi gewesen war. Die Frau schien mir nicht zu glauben. Sie kannte Zahlen, die belegten, dass
jeder zehnte DDR -Bürger Inoffizieller Mitarbeiter war. Ich müsste doch einen davon kennen. Ich zuckte mit den Schultern und wusste nicht, was ich sagen sollte.
    Danach änderte ich meine Strategie. Ich sagte nicht mehr, woher ich kam.
    Die DDR war verschwunden, entwertet, ein peinlicher Irrtum, den man lieber vergaß. Mit der DDR war auch meine eigene Vergangenheit verschwunden und entwertet.
    Im November 1993 lege ich auf den zwei letzten Seiten des Tagebuchs Listen an.
    Was ich mag:
    Laut Musik hören
    Das Meer
    Mich verlaufen
    Maupassant, Nietzsche
    Provozieren
    Vollkornbrot
    Naturkosmetik
    Fremde Städte kennenlernen
    Was ich hasse:
    Sächsischer Dialekt
    Dauerwelle
    Schrankwände
    Mallorca
    Hauptschüler mit rechter Gesinnung
    Leberwurst
    Über den Alex gehen
    Menschenmassen
    Wenn ich das heute lese, amüsiert es mich. Schrankwände, Dauerwelle, sächsischer Dialekt und Leberwurst. Das sind die Dinge, die ich mit der DDR assoziierte. Am ehesten kann ich noch die Abneigung gegen das Sächsische nachvollziehen. In der DDR kamen die schlimmsten Kommunisten aus Sachsen. 1990 bekam dort die CDU die höchsten Stimmergebnisse. Sachsen, das war für mich die Hochburg der Opportunisten.
    Aber sonst? Ein Jahr, bevor ich das schrieb, hatte ich selbst noch eine Dauerwelle, und im Wohnzimmer meiner Eltern stand eine Schrankwand. Nun hasste ich das alles. Ich hasste meine Kindheit, meine Vergangenheit.
    Ich lese aus den Zeilen schon die Verzweiflung heraus, die später noch größer werden wird. In mir baute sich damals ein Druck auf, mich neu zu erfinden. Ich wollte von vorn anfangen, so neu und blank sein wie weißes Papier.
    Ich wusste nur noch nicht wie.
    Im Februar 1994 machte ich ein Praktikum bei einer Zeitung in Bremen. An einem Abend rief mich mein Freund André an. Er war ein paar Jahre älter, wir kannten uns aus Eisenhüttenstadt, aus dem Eastside, und waren seit dem vorherigen Sommer zusammen. Wir hatten unterschiedliche Berufswünsche und Vorstellungen von der Zukunft, er studierte BWL in Kiel, ich Politik in Berlin, wir sahen uns selten.
    Während ich in Bremen war, jobbte er in Hannover. Ich fuhr mitten in der Nacht zu ihm, eineinhalb Stunden mit dem Auto, aber als ich da war, wusste ich nicht, was ich sagen sollte.
    André klagte über die neue Zeit, die Jagd nach materiellen Werten und Konsum. Geld, Karriere, Erfolg seien die einzigen Dinge, die heutzutage zählten, nicht mehr menschliche Beziehungen. Der Mensch sei ein »Homo oeconomicus«, der sich nur nach seinem Nutzen entscheide, referierte er.
    Er hatte sich verändert, seitdem er aus Eisenhüttenstadt weggegangen war.
    André studierte BWL , trug neuerdings Anzug und hatte für die Zeit nach seinem Abschluss schon einen Vertrag bei Volkswagen. Er lebte ganz gut mit den Werten, die er angeblich ablehnte. Er roch auch schon wie ein Westler.
    Ich sagte ihm, er sei ein Heuchler.
    Wir stritten uns, am Ende fuhr ich in den frühen Morgenstunden davon, als könnte ich so der neuen Zeit entkommen.
    Auf der B6 Richtung Bremen blieb mein alter Dacia stehen und sprang eine Weile nicht mehr an. Ich stand neben einem Feld, auf der Straße kam kein anderes Auto. Ich konnte in der Ferne noch mehr Felder sehen, keine Häuser, keine Telefonzelle. Es war vier Uhr morgens. Es war kalt und still.
    Ich fuhr nach Bremen, packte meine Sachen. Das Praktikum beendete ich nicht. Ich zog während der Semesterferien wieder bei meinen Eltern ein und arbeitete bei der Lokalzeitung.
    Liebe, schlussfolgerte ich, hielt mich nur zurück in meinen Anstrengungen.
    13. März 1994
    Ein 19-jähriges Mädchen hat sich in

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