Eisenkinder
achtziger Jahren waren in der DDR rechtsradikale Gruppen entstanden. Der Antifaschismus gehörte zwar zur Staatsräson, machte aber nicht jeden automatisch zum Antifaschisten. Bei manchen bewirkten die regelmäßigen Besuche von Konzentrationslagern, die für Pioniere vorgeschrieben waren, und die penetrant wiederholten Merksätze über die deutsche Schuld das Gegenteil. Wenn man als Jugendlicher die Autoritäten provozieren wollte, musste man Nazi-Symbolik verwenden oder etwas gegen die Sowjetunion sagen. Das war der größte Tabubruch. Uwe Mundlos ging zwar auf eine Schule, die den Namen eines Widerstandskämpfers trug, ritzte aber in der neunten Klasse im Werkunterricht Hakenkreuze. Das war 1988.
Das Ausländerheim war nicht weit weg vom Lehrlingswohnheim, in dem ich schlief. Manchmal sah ich unter dem Fenster Gestalten vorbeihuschen. Frauen mit Kopftüchern und langen Röcken. Männer mit hungrigen Blicken und fremden, lauten Stimmen. Am Montag, wenn ich in die Kaufhalle ging, standen dieselben Gestalten am Eingang und bettelten.
Bettler kannte ich bisher nur aus dem Westen. Eine Freundin, die mit dabei war, sagte, ich solle nichts geben, die würden alles umsonst bekommen, Essen, Klamotten, Computer, Kameras.
Es wäre eine Lüge zu behaupten, dass ich damals vorm Einschlafen besonders an die Menschen im Heim gedacht hätte. Ich kannte keine Ausländer und ich kannte keine Neonazis, zumindest nicht persönlich. Wenn mir eine Gruppe Jungs mit Glatzen und Springerstiefeln auf dem Bürgersteig entgegen kam, wechselte ich die Straßenseite. Sie suchten Streit, wollten auf sich aufmerksam machen.
Jetzt durfte man endlich alles sagen, was vorher verboten war.
Die Tabus fielen, und manche wurden übermütig. An den Mauern von Eisenhüttenstadt tauchten Hakenkreuze auf und Deutschland-über-alles-Sprüche. Es gab keine Regeln mehr, keinen funktionierenden Staat. Jede Woche wurden Behörden aufgelöst und wieder neu gegründet. Die Beamten, auch die Lehrer, wussten nicht, was sie nach Westgesetzen erlauben sollten und was nicht. Rechts-Sein wurde zu einer Jugendkul-
tur.
Neben mir schlief meine Zimmergenossin Nancy. Sie hatte sich verändert in letzter Zeit. Sie war immer eher unpolitisch gewesen, sie las keine Zeitung, sah keine Nachrichten, sie interessierte sich für Selbsterfahrungsbücher, Betty Mahmoody und solche Sachen, ihre Lieblingsband war Roxette. Neuerdings hörte sie Böhse Onkelz und hatte Freunde, die mit Springerstiefeln und Bomberjacke rumliefen.
Das war auch eine neue Mode: Mütter kauften ihren Söhnen Bomberjacken, allein aus ökonomischen Gesichtspunkten war das sinnvoll. Die Jacken hatten eine gute Qualität, sie hielten ein paar Jahre, und sie waren, auch das ist nicht unwichtig in kleinen Städten, unauffällig, weil sie alle tru-
gen.
In der Zeitung, die in der Schule herumlag, hatte ich gelesen, dass siebzig Jugendliche das Asylbewerberheim, das fünf Minuten vom Lehrlingsheim entfernt stand, am letzten Wochenende der großen Ferien in Brand gesteckt hatten. Sie ließen die Ferien mit einem Feuerwerk ausklingen. Glücklicherweise war niemand zu Schaden gekommen. In den Tagen danach versammelte sich jeden Abend ein Mob und warf Brandsätze. Ich fragte mich, warum die Polizei das Problem nicht in den Griff bekam. Oder wollte sie es nicht in den Griff bekommen? Jeder kannte doch die Jungs mit den tiefer gelegten Autos, Runen auf der Heckscheibe, kurzgeschorene Haare, jeder wusste, wo sie sich trafen. Ich lernte damals, dass die Polizei schwach ist. Ich wollte lieber nicht in eine Situation kommen, in der ich auf ihre Hilfe angewiesen war.
Die Beamten waren nach den Ausschreitungen schnell dabei, ihre Stadt zu schützen. Es hieß, dass die Täter aus Rostock kamen, der Polizeipräsident sprach von einem »Randale-Tourismus«. In Rostock-Lichtenhagen hatte ein Mob tagelang Vietnamesen, ehemalige Vertragsarbeiter, gejagt. Daneben standen die Nachbarn und klatschten. Die Bilder von aufgehetzten Jugendlichen, brennenden Gebäuden und der flüchtenden Polizei gingen um die Welt, seitdem waren alle Ostler Nazis. Gegen die Bilder von Rostock anzukommen war unmöglich.
Eisenhüttenstadt schaffte es nicht in die Nachrichten, obwohl sich im Kleinen etwas Ähnliches abspielte. Überall in Deutschland brannten damals Asylbewerberheime. Politiker heizten die Stimmung noch an, in der erregten Asyldebatte klangen die Äußerungen mancher Politiker nicht viel anders als die der Neonazis. Es war die
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