Eisenkinder
Beeskow erschossen. Ich bin 19. Ich bewundere sie, gleichzeitig verstehe ich sie nicht. Den Mut zu haben, aufs Leben zu verzichten, dazu gehört schon was. Ich glaube, das geht nur, wenn man nicht nachdenkt, impulsiv handelt, aus einer Laune heraus. Ein Selbstmord ist so unnötig.
Als ich das viele Jahre später lese, versuche ich, Genaueres über den Fall zu recherchieren. Bis auf eine kleine Meldung entdecke ich nichts. Ich schrieb so kühl über den Selbstmord, aber der Fall löste etwas aus. Zwei Tage später schrieb ich:
15. März 1994
Nach Berlin bin ich heute die ganze Strecke 30 gefahren. Ich hatte den ganzen Tag Angst vor einem großen Unglück, das ich nicht aufhalten kann. Ich benahm mich seltsam. Guckte in die Luft und sah nichts. Ich hatte Todesangst. Was ist los mit mir? Todesangst mit 19, aus heiterem Himmel? Den ganzen Tag fürchtete ich, ich müsste sterben. Mein Körper gehorchte meinem Verstand nicht. So muss es sich anfühlen, wenn man verrückt wird. Ist nicht alles, was ich tue, sinnlos und leer? Ich darf nicht weiter nachdenken.
Ich lese das heute und komme mir selbst fremd vor. Hab ich das wirklich geschrieben? Meine Tagebuchaufzeichnungen nach dem Abitur sind widersprüchlich, oft launisch, manchmal wütend, das Tagebuch steckt voller Briefe, die ich nie abgeschickt habe. Aber es ist selten so deprimierend zu lesen wie an dieser Stelle.
Woher kommt diese Endzeitstimmung? Diese Verzweiflung? Etwas Neues hatte angefangen, mein Erwachsenenleben, doch ich schrieb, als ob etwas zu Ende ging.
Meine Eltern konnten mir nicht helfen. Schon die Bafög-Anträge, die sie ausfüllen mussten, machten ihnen Angst. Sie gaben mir Ratschläge, die wenig nützten. Sie hatten die neue Zeit hingenommen wie einen Wetterumschwung, mit einer gewissen Teilnahmslosigkeit.
Wenn ich über die hohen Anforderungen an der Universität klagte, sagten meine Eltern, ich solle nicht mehr hingehen. Wenn ich eine schlechte Note bekam, vermuteten sie, dass die Professoren Ostdeutsche benachteiligen würden. Wenn ich mich beklagte, dass ich mich allein fühlte, empfahlen sie, ich sollte aus Berlin zurückkommen.
Meine Eltern hielten die Stadt für zu laut, zu dreckig und zu gefährlich. Wenn ich zurückfuhr, gab meine Mutter mir Essenspakete mit, als wäre in Berlin eine Hungersnot ausgebrochen.
Als ich 19 war, führte mein Vater ein erstes Gespräch mit mir. Danach notiere ich mir seine Worte in mein Tagebuch:
Heute langes Gespräch mit Papa. Er hat gesagt, nicht Glück und Freude bestimmen das Leben, auch nicht Geld und materielle Werte. Die kurzen Momente des Glückes werden ständig überschattet. Tränen, Schmerz, Angst, das ist der Sinn des Lebens. Das Leben ist ein Kampf.
Was sagt man dazu? Wahrscheinlich meinte er es gut, wollte mich warnen, mir Illusionen oder falsche Erwartungen zu machen. Optimismus oder Hoffnung zu verbreiten war nicht seine Stärke.
An einem Morgen im Mai 1993 meldete ich mich bei der Studentenarbeitsvermittlung der FU Berlin an. Ich schrieb darüber wie aus einer fernen Welt:
27. Mai 1994
Ich bin heute um fünf aufgestanden und habe mich bei der FU -Arbeitsvermittlung Heinzelmännchen angemeldet. Kurz- und langfristig werden Jobs vermittelt, dreimal täglich erklingen in den Lautsprechern der Thielallee die verschiedenen Angebote. Vom Rasenmähen über Krankenpflege bis zum Bühnenaufbau gehen die Jobs. Zehn Angebote gibt es, auf die sich 40 bis 50 Studenten stürzen. Soziologisch betrachtet ist der typische Heinzelmann ein Ausländer. Heinzelfrauen sind ebenso selten wie die Angebote für Frauen, also Prospekte verteilen, Etiketten kleben, Briefe sortieren. Die Jobs für Männer sind auch nicht verlockend. Möbeltransport scheint sehr begehrt zu sein. 20 Mark gibt’s dafür die Stunde für Knochenarbeit. Möbeltragen in den 5. Stock, Fahrstuhl nicht vorhanden. Ob Plackerei auf dem Bau, Nachtarbeit, die Heinzelmännchen sind nicht zimperlich. Sie haben alle Hemmschwellen überschritten. »Mach ich nicht« gibt es nicht. Alles, was zählt, sind die Scheine, die man später in der Hand hält. Die Leute brauchen das Geld, deshalb stehen sie morgens um halb sieben in der Silberlaube, werfen ihre Ausweise in den Korb und hoffen, dass sie eine Nummer weit vorn bekommen. Zwei Stunden später füllt sich der Raum wieder. Alle hören auf die Stimme aus dem Lautsprecher, die die Angebote verkündet. Noch zweimal am Tag die gleiche Prozedur. Noch eine Chance für Frank, Guy, Katrin, Hassan und
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