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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Rennefanz
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Zukunft des Stahlwerks EKO seien die Jungen verunsichert.
    Zwischen 1991 und 1992 wurden dreitausend Menschen aus dem Stahlwerk entlassen. Siebentausend waren in Kurzarbeit. Der Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl, Ruprecht Vodran, wurde mit den Worten zitiert: »Jede Tonne Stahl, die in Ostdeutschland produziert wird, ist eine Tonne zu viel.«
    »Den Jugendlichen gehen in einer solchen Situation die Orientierungen der Neonazis runter wie Öl«, meinte die Sozialarbeiterin Helga Parcewski.
    Heute habe ich manchmal das Gefühl, ich müsste mich rechtfertigen, warum wir uns damals an der Schule nicht gegen die Ausschreitungen engagierten. Es gab keine Lichterkette, keine Solidarität mit den Asylbewerbern. Die Ausschreitungen waren meiner Erinnerung nach kein großes Thema, weder unter den Schülern noch unter den Lehrern.
    Meine Lehrer hatten inzwischen Übung darin, Ereignisse, die nicht in ihr Weltbild passten, zu ignorieren. Als die Amerikaner in den Irak einmarschierten, als Bagdad brannte, hatten sie uns auf die Straße gescheucht, um zu demonstrieren.
    Meine Lehrer halten daran fest, dass es an ihrem Gymnasium keine Rechten gab. Die Schwachen brauchten Führer, sagt der ehemalige Schuldirektor, Jörg Weise. Es klingt, als hätte es an seiner Schule keine Schwachen gegeben.
    Meine damalige Klassenlehrerin gibt allerdings zu, dass sie Anfang der neunziger Jahre auch keinen Neonazi erkannt hätte. Sie hatte keine Vorstellung, wie man einen Neonazi identifiziert, wenn er nicht gerade im Stechschritt durch das Klassenzimmer stolzierte und Sieg Heil brüllte. »Ich wurde erst später darauf hingewiesen, dass es bestimmte Marken gibt, die Rechte bevorzugen«, sagt Frau Wilke heute.

Homo Oeconomicus
    Im Sommer 1993 machte ich Abitur. »Bildungsgang erweiterte Oberschule« stand auf den Abschlusszeugnissen, als Zeichen dafür, dass ich eine Schule besucht hatte, die es nicht mehr gab. Sie werden ins Leben eintreten, sagten die Lehrer. Ich trat ins Leere. Ich hatte keine Ahnung, was als Nächstes passieren würde.
    Es gibt Fotos von der Abiturfeier, die im Friedrich-Wolf-Theater stattfand. Ich trage einen glänzenden Hosenanzug, ich will elegant aussehen, doch die schwarzen Straßenschuhe, die an meinen Füßen stecken, passen nicht. Auf dem Foto sehe ich meine Unsicherheit.
    Kein Vergleich zu den Abiturfeiern heute: Mädchen in Hollywood-Roben, mit komplizierten Hochsteckfrisuren und professionellem Make-Up.
    Wäre die Mauer nicht gefallen, hätte ich mein Abitur in der Talente-Klasse wie geplant abgeschlossen, dann hätte ich Journalistik an der Universität Leipzig studiert. Einen anderen Weg gab es nicht, wenn man Journalistin werden wollte. Im Sommer 1993 schien es mir fast gleichgültig, welches Studium ich wählte. Aber nach Leipzig wollte ich auch nicht mehr.
    Die Zeitungen schrieben, diejenigen, die jetzt Abitur machten, seien die Wendegewinner. Sie würden unbelastet von der Vergangenheit die neue Freiheit zu nutzen wissen – und die Einheit nebenbei vollenden. Einheit vollenden, das klang so, als wäre das Zusammenwachsen von zwei Ländern ein 800-Meter-Lauf, man müsste nur genügend Runden drehen, dann käme man ans Ziel.
    Ich wollte weg aus Eisenhüttenstadt. Schon die letzten beiden Schuljahre hatte ich als Zeitverschwendung empfunden, ich wollte, dass die Zukunft endlich beginnt.
    Die Aussichten seien ganz unsicher für Journalisten, warnte mich die Frau vom Berufsinformationszentrum in Berlin-Tiergarten. Wenige Stellen, sehr viele Bewerber. Ob ich nicht lieber ein Lehramt in Erwägung ziehen wolle?
    Aus meiner ehemaligen Klasse wählten die meisten Ausbildungsberufe, sie wurden Versicherungsangestellte, Bankkauffrauen, relativ wenige studierten, und wenn, dann wählten sie Fächer, die Sicherheit und Geld versprachen, Jura und Betriebswirtschaft, oder die bequem waren, wie Kulturwissenschaft an der neu gegründeten Europa-Universität Viadrina im Nachbarort Frankfurt/Oder.
    »Jeder muss zuerst an sich denken«, notierte ich im Herbst 1993 in mein Tagebuch, es ist ein Satz, der in Variationen immer wieder auftauchen wird. Ich weiß nicht mehr, wo ich ihn zuerst aufgeschnappt habe. Es war ein Satz, der damals kursierte, den man sich unter Freunden zuflüsterte, warnend, ermahnend. Ein Lehrsatz der »Ellenbogen-Gesellschaft«. Noch so ein typisches Wort für die Zeit.
    Ich hatte im Berufsinformationszentrum ein Faltblatt über den Studiengang Politologie an der FU Berlin gefunden. Ich dachte, es

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