Eisenkinder
mich. Der Job geht immer an den Interessenten mit der niedrigsten Wartenummer. Die Studenten haben es nötig. Sie sehen nicht aus wie aus dem Ei gepellt. Haben keine reichen Eltern. Die meisten haben dunkle Haut und schwarze Haare. Deutsch sprechen sie nicht perfekt. Sie müssen sich irgendwie ihren Unterhalt finanzieren. Sie sind die Heinzelmänner.
Der Besuch der Heinzelmännchen lehrte mich, dass es so etwas wie Statusunterschiede auch unter Studenten gab. Wer sich bei den Heinzelmännchen traf, wie die Ausländer und die Ostdeutschen, stand ganz unten. Mir fällt auf, wie distanziert ich schreibe: »Sie haben es nötig.« Als ob ich noch etwas Besseres sein wollte.
Über die Arbeitsvermittlung fand ich einen Sommerjob auf der zweitgrößten Baustelle Berlins am Ostkreuz. Ich arbeitete dort als Sekretärin in einem Baucontainer. An meinem 20. Geburtstag war mein erster Arbeitstag.
16. Juli 1994
Meine Füße stecken in klobigen braunen Sicherheitsstiefeln. Wenn ich über die Baustelle laufe, ziehe ich alle Blicke auf mich. Das hat nichts mit meinem Aussehen zu tun. Es gibt hier sonst keine Frauen. Die Bauarbeiter testen mich, probieren aus, wie weit sie gehen können. Man kann nur mit ihnen arbeiten, wenn man eine Balance zwischen zweideutigem Geplänkel und Distanz hält. Es ist sehr anstrengend. Die meisten sind Moslems aus dem ehemaligen Jugoslawien. Sie sind jung und ihre Augen flackern. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Flackern, was ist das für ein Wort.
Manchmal stehen sie plötzlich im Büro und wollen Schrauben, Schlüssel, Scherze. Ich habe keine Angst, sprachlich bin ich ihnen überlegen. Schlimmer sind die Bauleiter, bei denen jede zweite Bemerkung unter die Gürtellinie zielt. Ich bleibe locker, obwohl ich heulen könnte. Man darf nicht schreien, weil man damit Schwäche zeigt. Dann haben sie einen Angriffspunkt, in den sie immer wieder bohren.
Ich versuchte, die DDR zu vergessen, und zu ignorieren, dass mein Leben zweigeteilt war. Doch das Verdrängte kam immer wieder hoch. Ende August beobachtete ich eine Szene in der U-Bahn, die mir so wichtig war, dass ich sie aufschrieb.
31. 8. 1994
Ein Mann spricht einen anderen schroff an, der gerade eine Zeitung liest. »Scheiß Kommunisten-Blatt. Warum liest du das?« Der Leser des Neuen Deutschland schaut auf, meint der mich?
»Die Kommunisten sollten alle eingesperrt werden, die haben Deutschland geteilt.«
Der ND -Leser widerspricht.
»Ach, hör bloß auf mit den zwei deutschen Staaten. Es gab immer nur ein Deutschland«, sagt der Schroffe.
»Aber die BRD !«
»Die BRD sagt der! Das war doch kein Ausland. Wir gehörten immer zusammen.«
Der Mann regt sich weiter auf. Er scheint ein Kurzzeit-gedächtnis zu haben.
Ich kenne ihn, vor sieben Jahren sah ich ihn mit einem Transparent marschieren: Wir bauen den Kommunismus, Frieden, Wohlstand für alle.
Ich möchte kreischen schreien heulen.
Wer war der Mann, den ich meine erkannt zu haben? Es ist vielleicht nicht wichtig. Die Szene war typisch für die Zeit. Es gab zwei Möglichkeiten, mit der Vergangenheit umzugehen, man konnte vor dem Fernseher sitzen, sich Nostalgieshows angucken, Plattenbau-Memory spielen und Neues Deutschland lesen, oder man konnte so tun, als sei man schon immer für die deutsche Einheit gewesen. Beides forderte viel Selbstverleugnung.
Wenn ich meine Aufzeichnungen lese, spüre ich zwischen den Zeilen immer mehr den Druck, mich für etwas entscheiden zu müssen.
1. September 1994
Ich beschäftige mich mit der Frage, inwieweit der Mensch sein Leben selbst bestimmen kann. Inwieweit hat er die Fähigkeit dazu?
Ich möchte wissen, ob der Mensch glücklicher ist in einer liberalen Gesellschaftsordnung, die dem Individuum das Recht auf Selbstbestimmung ermöglicht. Oder ob der Mensch sich eher wohl fühlt in einer Ordnung, die Werte und Richtungen vorgibt? Kann der Mensch mit der Freiheit umgehen? Kann der Mensch selbst Orientierungspunkte jenseits von Schule, Beruf usw. setzen? Und diese auch im Auge behalten?
Alle klagen heute über den Verlust der Werte. Früher scheint alles besser gewesen zu sein. Heute sieht sich jeder nur selbst und seinen Konsum. Die Jugend ist verwahrlost, so sagen es alle.
Den Menschen fehlen feste Orientierungspunkte. Sie wissen nicht mehr, wie viel Beziehungen zu anderen wert sind. Sie wissen nicht, was morgen kommt.
Sie haben Angst vorm Ozonloch, vor vergiftetem Fleisch und davor, dass ihre Lieblingsfernsehserie
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