Eisenkinder
beschrieb. Die deutsche evangelikale Bewegung orientierte sich an Amerika, von dort kamen die Vorbilder, sie hießen Billy Graham, Benny Hinn, Bill Hybels. Man sprach in einem Mix aus Deutsch und Englisch, das gab den Zusammenkünften ein internationales Flair.
In dem Seminar ging es darum, wie man sich am besten dem Zeitgeist entzieht. Ich notierte mir die wichtigsten Regeln in mein Tagebuch. Die Botschaften, die die Missionare übermittelten, klangen auf Englisch auch viel besser als auf Deutsch. Das war wie bei Popsongs. Widersprüche fielen nicht so schnell auf.
Exit from temptation hörte sich besser an als Geh der Versuchung aus dem Weg , No compromises klang radikaler als Keine Kompromisse, und selbst der Satz: Loyalty to god not society las sich wilder als Diene Gott, nicht der Gesellschaft und dem Staat .
No compromises ist drei Mal unterstrichen. Kompromisse sah ich als Zeichen von Schwäche und Unordnung.
Wenn ich das heute lese, frage ich mich, ob ich wirklich verstanden hatte, was diese Aussage in voller Konsequenz bedeutet hätte: Diene Gott, nicht der Gesellschaft und dem Staat. Das hätte bedeutet, dass ich das Grundgesetz ablehnen müsste, die Meinungsfreiheit, die Kritik an Religionen erlaubt, und wenn ich in einen Konflikt mit dem Gesetz gekommen wäre, hätte ich weltliche Gerichte nicht akzeptieren dürfen. Diene Gott.
Ich lese die weiteren Merksätze, die ich notiert habe:
Verhalte dich, wie Jesus sich verhalten hätte, egal ob du Krankenschwester oder Journalist bist.
Ich weiß nicht mehr, wer mir diese Sätze diktiert hat. Mich erschreckt meine Naivität. Woher sollte ich wissen, wie Jesus sich im Jahr 1995 verhalten hätte? Wie kann Jesus, ein pazifistischer Orientale, der vor zweitausend Jahren lebte, ein Vorbild für das Leben im 20. Jahrhundert sein? Was bedeutet es, wenn sich eine Krankenschwester so verhalten soll wie ein Zimmermann? Und wie konnte Gott ein liebender Vater sein und sich zugleich wie ein kleinlicher Diktator aufführen?
Aber solche Fragen stellte ich mir offensichtlich nicht. Ich fiel in meine angelernte Rolle zurück, keine Fragen zu stellen.
Jesus war mein Held, mein Idol.
Mein Tagebuch wurde mehr und mehr zu einem Gebetbuch, jede Seite ist mit Bibel- und Sinnsprüchen gespickt. Ich hatte ein Gegenüber:
Jesus ist für mich gestorben, er hat mich neu gemacht, ich will ihn durch mich leben lassen, ich unterwerfe mich seinem Willen. Herr, gib mir Weisungen, wo ich wirken soll.
Die religiöse Sprache erscheint mir oft falsch und unnatürlich. Wie auswendig gelernt. Es war Teil des neuen Drehbuchs.
Wenn Menschen zum Islam oder zum Buddhismus übertreten, geben sie sich neue Namen. Ich gab mir eine neue Biografie.
Ich sah überall Zusammenhänge, dass Gott mich schon zu DDR -Zeiten geführt hatte. Selbst die Mormonen in Eisenhüttenstadt deutete ich als Zeichen Gottes.
Ich war eine Bilderbuch-Konvertitin, wahrscheinlich kursierten längst Lehrvideos über mich: How to catch an Ossi.
Wie viele, die neu zu einem Glauben gefunden hatten, wollte ich alles richtig machen.
Die meisten in der Gemeinde hatten schon als kleine Kinder Jesus-Traktate verteilt, viele gingen auf christliche Schulen, in denen die Evolution nicht gelehrt wurde, sie empfanden ihren Glauben auch nicht als fundamentalistisch, sondern als normal. Ich hatte ständig das Gefühl, beweisen zu müssen, dass ich kein Fake war, indem ich mich besonders anstrengte und eifrig mitmachte.
Gleich im nächsten Sommer meldete ich mich freiwillig für einen Missionseinsatz in Berlin. Auf dem Breitscheidplatz in Berlin sprach ich nun Passanten an und erzählte von Jesus. Ich lief in einem langen Rock umher, unter dem Arm eine Bibel. Ich hatte eine zweitausend Jahre alte Geschichte hinter mir, die Spott und Kriege und Revolutionen überstanden hatte.
Mein Vater besuchte mich einmal auf dem Breitscheidplatz, aber er hatte es eilig, schnell wegzukommen. Mein Vater, der überzeugte Atheist, würde später sagen, dass er mein Auftreten befremdlich fand. Damals sagte er nichts.
Als ich schon in Hamburg lebte, entdeckte eine meiner neuen Freundinnen, Ruth, ein Pentagramm in meinem Regal. Ich hatte sie zum Beten eingeladen. Ich hatte gelernt, dass man die netten Mädchen aus der Kirche nicht zum Kaffee, sondern zur Andacht einladen musste, damit sie auch wirklich kamen.
Das Teufelszeichen prangte auf einem Cover von The Sisters of Mercy. Ich hörte die Musik manchmal noch, sie erinnerte mich an
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