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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Rennefanz
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zur Ruhe kamen, sondern unerlöst weiter herumspuken würden. Mit der Religion fand ich zur Magie zurück. Zu einer anderen Zeit, einer anderen
Welt.
    Ich hatte so ein Gefühl der Entrückung wie in Hamburg schon einmal erlebt, in Berlin, es war ein Samstagnachmittag, ich bummelte an den Schaufenstern am Tauentzien vorbei, als ich die Beats von Lastwagen hämmern hörte. Ich wusste nicht, wie die Musik hieß, es war nicht mein Stil, es war zu elektronisch, rau und hart. Dann kamen die Wagen näher, überall tanzten Menschen, nicht klassisch, sondern mit eckigen, abrupten Bewegungen, jeder für sich und doch alle zusammen, die Männer hatten ihre T-Shirts ausgezogen, die Mädchen trugen nur BHs. War das eine Demonstration? Eine Party? Die Tänzer kletterten auf Laternenpfähle und wippten dort weiter. Sie hatten weite, aufgerissene Pupillen, als sähen sie mehr als andere. Sie wirkten entrückt, wie Geister. Als würden sie einen unsichtbaren Gott anbeten. Den Ravergott. Es war ein toleranterer Gott als der, auf den ich später in Hamburg stoßen würde, man unterwarf sich keinen Regeln, keiner Kontrolle. Man tanzte alles weg. Der Rhythmus entwickelte einen Sog, es gab nur den Sound, meine Beine zuckten, ich wippte mit, begann auch zu tanzen, unbeholfen, aber hier guckte niemand. Ich tanzte bis zum Kurfürstendamm, und plötzlich waren die Geister verschwunden.
    In der Anskar-Kirche stand ich nun schon eine Weile, ich vergaß die Zeit, vielleicht war eine Stunde vergangen, vielleicht auch nur zehn Minuten, so klar konnte ich das nicht mehr sagen.
    Meine Hände hielt ich immer noch oben, mir war schwindelig, ich hatte Mühe, gerade zu stehen, ich schaukelte nach vorn und nach hinten, erst leicht, dann schneller. Die anderen schaukelten heftiger, einer fiel um und lachte.
    Niemand saß nur auf der Bank und hörte mit gesenktem Kopf zu, wie in der Kirche, die ich von zu Hause kannte, wo der Pastor mit falscher, leidender Stimme sang. Selbst sein Händedruck fühlte sich hoffnungslos an.
    Der Gottesdienst in der Anskar-Kirche war wie ein Event, laut, lebendig, modern. »Wer von euch hatte eine Prophetie?«, rief der Pastor Kopfermann, mit einer Stimme, die keine Enttäuschung duldete, wie ein Lehrer, der Schulstoff abfragte. Einige Leute standen auf und wankten nach vorn auf die Bühne. Etwas in ihrer Haltung, ihrem Blick erinnerte mich an die Raver, an die Geister von Berlin. Doch es fehlte die Leichtigkeit, dieses Alles-egal-Gefühl. Die Geister traten mit einer Botschaft auf.
    Ein Mann um die 50 erklärte, er habe einen dunklen Tunnel gesehen, dahinter ein Licht. Er interpretierte das so: Die Gemeinde werde das Licht nach Hamburg bringen und eine Erweckung erleben. Spätestens bis zum Jahr 2010.
    Diese Prophetien entwickelten ihre eigene Dynamik. Der Pastor sprach ein Paar in der ersten Reihe an. »Ich sah euch Musik machen, Menschen sprachen englisch, ihr habt selbstgeschriebene Lieder aufgeführt, und Menschen übergaben ihr Leben an Jesus.« Das Paar guckte nervös, er starrte sie an, sie strich verschämt über ihre Augen.
    Und jetzt?
    Was, wenn sie das nicht wollen?
    Wenn er will und sie nicht?
    Ich bewunderte das Selbstbewusstsein, die Sicherheit, mit der der Mann seine Weissagungen traf. Ich hatte keine Zeit darüber nachzudenken, was in dem Gottesdienst passierte, ich war damit beschäftigt, die Geheimnisse der neuen Welt aufzusaugen. Ich wollte das alles so gerne glauben. Das vergangene Jahr nach dem Abitur hatte ich wie unter Strom verbracht. Jetzt war Ruhe. Zumindest für eine kurze Zeit war ich betäubt.
    In der Gemeinde wurde nicht über den Osten geredet, und wenn, dann nur in überheblichem Ton. Es war die Phase der »Jammer-Ossis« und »Besser-Wessis«. Heute kann man sich das gar nicht mehr vorstellen, aus der DDR ist längst ein Schauermärchen geworden. Aber damals, 1995/96, taugte die DDR noch zum Spott. Eine Freundin, die nach der Wende als 19-Jährige bei der neu gegründeten Regionalredaktion der Bild -Zeitung in Magdeburg anfing, erzählte mir später, wie ihr Wessi-Chef ihr jahrelang jeden Morgen eine Banane hinlegte.
    Es war eine Anspielung auf das berühmte Titelbild aus der Titanic – Zonen-Gaby und ihre erste Banane. Das fanden sie lustig, die Westler. Die Ostler schlugen später zurück. »Besser-Wessi in Bernau erschlagen«, titelte die Super-Illu etwa auf dem gleichen Niveau. Die Schlagzeile führte dazu, dass manche Westdeutsche bis heute lieber im Kongo Urlaub machen würden als in

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