Eisenkinder
bisschen aufgeregt, wegen der vielen fremden Gesichter, ich lief nur Katharina hinterher. Ich bemerkte die vielen jungen Leute, die in den Saal kamen. Sie umarmten sich herzlich, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen.
Ich weiß nicht, ob mir schon damals auffiel, wie übertrieben das alles war, das Lachen, die Umarmungen. Als müsste das Innere nach außen gekehrt werden. Wie im Theater. Ich fügte mich dort ganz leicht ein, als ob ich meine Rolle schon lange früher einstudiert hätte.
Ein älterer Mann, vielleicht der Pfarrer, begrüßte die Besucher und fragte, ob Gäste da wären. Eine Frau hinter mir stand auf und stellte sich vor. Sie sagte ihren Namen und ihre Gemeinde. Katharina stieß mich an. Also stand ich auch auf. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Alle Augen ruhten auf
mir, mein Herz klopfte, mein Gesicht färbte sich rot. Ich nannte nur meinen Namen und gab an, dass ich aus Berlin käme. Das schien auszureichen, denn der Gottesdienst fing an.
Jemand trommelte auf das Schlagzeug, ein Mädchen trat ans Mikrofon und begann zu singen. Die Leute standen auf, manche hoben ihre Hände und sangen mit. Der Text war englisch, die Melodie eingängig. Bei der zweiten Strophe stimmte ich mit ein. Ich hatte als Kind gern gesungen, auch die Kampf- und Pionierlieder, auch wenn man das fünf Jahre nach dem Mauerfall nicht mehr sagen durfte, ohne als Kindersoldat zu gelten.
Ein junger Mann ging nach vorn, er trug Shorts und einen Bart, er sah nicht wie der Pfarrer aus. Er stellte sich als Sigmar vor und erzählte eine Geschichte aus der Bibel, es ging um einen Vater und seine zwei Söhne. Der Vater teilte das Erbe auf, der jüngere Sohn ging in ein fernes Land und gab sein Geld aus, bis nichts mehr übrig war. Als eine Hungersnot kam, musste er als Tagelöhner arbeiten und Schweine hü-
ten. Er aß aus dem gleichen Trog wie die Schweine und fühlte sich verlassen. Sigmar sagte, dass der Junge sich leer und einsam fühlte, weil er sich von seinem Vater entfernt hatte.
Dann machte er eine Kunstpause.
Wir sollten darüber nachdenken, was das mit unserem Leben zu tun hat. Hast du dich von deinem Vater, von Gott entfernt? Direkte Anrede. Es war ein einfacher psychologischer Kniff, den ich tausendmal wieder hören würde, der sich abnutzen würde, aber damals funktionierte er.
Sigmar sagte, die Menschen hätten sich abgewendet von Gott, um ihr eigenes Ding zu drehen. Weil sie sich stark fühlten, hätten sie Gott lächerlich gemacht. Sie hätten sich anderen Göttern zugewandt, Geld, Karriere, Sex, Drogen.
Spürst du nicht manchmal auch eine Leere in deinem Leben?, hörte ich. Ich nickte unwillkürlich.
Ich hatte nun das Gefühl, dass Sigmar, der Prediger, nur zu mir sprach. Ich verstand genau, was er sagte. Hatte ich nicht vor kurzem dieselben Worte benutzt, um das Gefühl nach dem Mauerfall zu beschreiben? Diese Leere, die folgte?
Ich hatte zwei Semester in Berlin studiert und alles getan, was das System verlangte, ich hatte Seminare und Sprechstunden besucht, Papiere abgegeben und Scheine gemacht. Doch wozu das Ganze?
Ich dachte an den Staat, in dem ich nun lebte. Soweit ich es verstanden hatte, ging es im Westen hauptsächlich darum, viel Geld zu verdienen und Besitz anzuhäufen. Mir erschien das zu wenig für ein Leben. Die DDR , das alte Skelett, wollte ich auch nicht wiederhaben. Aber ich vermisste einen höheren Sinn.
Ich spürte, wie sich eine Enttäuschung in mir breitmachte, die ich nun klar mit dem westlichen System verband.
Gepredigt wurde Freiheit und Toleranz und Mitbestimmung, aber in Wahrheit war der Einzelne so unfrei wie früher. Wie mein Vater gesagt hatte: Wir träumten vom Reisen und bekamen die Arbeitslosigkeit. Die Wände waren aus Gummi.
Bei Václav Havel hatte ich gelesen, dass die Entfremdung des Menschen im Westen ähnlich fortgeschritten sei wie im Osten, das westliche System manipuliere nur unendlich feiner.
Heute denke ich, ich hätte dort sitzen bleiben können, meinen Gedanken nachhängen, ich hätte nicht aufstehen müssen, um mein Leben Jesus zu übergeben. Aber damals hatte ich keine Wahl.
Wie die Geschichte aus der Bibel weitergeht, ist bekannt: Sohn kehrt zum Vater zurück, Sohn bereut, Vater freut sich, Happy End.
Sigmar musste jetzt nur noch das Happy End im Saal herbeiführen. Es wurde ganz still. »Gott ist auch jetzt hier«, rief er. »Die Leere, die ihr spürt, das ist die Leere, die Gott hinterlassen hat. Der Vater möchte mit euch zusammen sein, er
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