Eisenkinder
Eisenhüttenstadt, als ich im Eastside zu »Temple of Love« getanzt habe.
Ruth bekam rote Flecken am Hals und sagte, dass der Teufel Musik benutze, um Menschen in sein Reich zu ziehen.
Bevor ich Jesus in mein Herz gelassen hatte, hatte ich mir nie Gedanken über den Teufel gemacht.
Ich hatte vor allem Möglichen Angst, vor Bakterien, Viren, Mundgeruch, einem Autounfall, einem Blitzeinschlag. Aber vor dem Teufel fürchtete ich mich nie.
Damit war es offenbar vorbei, wenn ich Ruths Aussagen richtig deutete. Jesus gab es nur im Doppelpack, der Teufel kam gratis dazu. Gut und Böse, Freund und Feind.
Ich wandte ein, dass die Musik harmlos sei, der Teufel sei auch nur in einer Liedzeile erwähnt. Ich konnte sie sogar auswendig: »And the devil in a black dress watches over/my guardian angel walks away.« Als ich die Zeile vortrug, nickte Ruth, das seien genau die Botschaften des Teufels. Sie würden das Unterbewusstsein beeinflussen.
Mir fielen Fragen ein: Nur weil ich ein Lied höre, in dem das Wort Teufel vorkommt, werde ich doch nicht zur Satanistin und schlachte Babys? Was ist das für ein kleinlicher Gott, der so wenig Vertrauen in seine Anhänger hat, dass er denkt, sie rennen bei der ersten Gelegenheit zum gegnerischen Team?
»Das Fleisch ist schwach«, flüsterte Ruth. Sie schloss die Augen und betete laut für mich, dass Gott mir den rechten Weg weisen solle. Ich verstand die Aufforderung. Keine Kompromisse, das hatte ich versprochen. Ich schmiss gleich alle CD s von The Sisters of Mercy weg. Ich vernichtete damit auch die Erinnerungen.
Es gab nicht mehr viel, was mich mit früher verband. Die letzte Verbindung war meine beste Freundin, Marlene, die ich aus dem Internat in Eisenhüttenstadt kannte. Wir waren zusammen nach Berlin gezogen, aber seit wir beide studierten, hatten wir uns voneinander entfernt. Sie studierte an der TU Berlin, Wirtschaftsinformatik, ein klar strukturiertes Fach, das nur wenige Frauen auswählten. Sie schloss sich einer Lerngruppe an, fand neue Freundinnen.
Als sie von meiner Verwandlung erfuhr, reagierte sie geschockt. Sie sagte, dass Gott nur etwas für labile, leicht beeinflussbare Menschen sei. Marlene, Tochter zweier engagierter Kommunisten, hatte in ihrem Leben noch keine Kirche von innen gesehen. Sie wollte erst verhindern, dass ich nach Hamburg ziehe. Als das nicht funktionierte, ging sie zu einer Sektenberatungsstelle und schickte mir Informationsmaterial.
Mir gefiel das. Ich war auf einmal gefährlich.
Die Kirche wollte, dass ich den Kontakt zu Marlene abbreche. Wahrscheinlich, damit ich mich besser indoktrinieren lasse.
»Selbst die engsten menschlichen Beziehungen können enden, du bist abhängig von den Schwächen der anderen«, sagte Katharina, die ich immer noch bewunderte. Als mich Marlene in Hamburg einmal besuchte, hatte Katharina deutlich gemacht, dass sie meine alte Freundin nicht mochte. Sie wäre zu negativ, verbreitete schlechte Stimmung.
Ich ließ mich von ihr beeinflussen, als habe es die Jahre mit Marlene in Eisenhüttenstadt nicht gegeben. Es gelang ihr, mir einzureden, dass nicht ich, sondern meine Freundin schuld an dem Bruch war. Ich glaubte das gern, weil es für mich bequemer war. Ich hatte nichts falsch gemacht.
In mein Tagebuch schrieb ich im Oktober 1995:
Ich bin nicht traurig oder wütend, dass ich sie verliere, ich spüre nur Mitleid. In ihrer Schwäche kann sie Gott, die Leere ihres Lebens, ihre Ängste nicht erkennen. Ich werde für sie beten. Ohne Gott hätte ich es nie geschafft, mich von ihr zu lösen.
Was ich damals nicht zugab: Ich rächte mich auch ein wenig an Marlene. In unserer Beziehung war sie stets die Stärkere gewesen. Sie war die Macherin, ich die Verträumte. Sie entschied, auf welche Konzerte wir gingen, welche Musik wir hörten. Sie sprach Jungs an und wurde angesprochen. Jetzt, mit meinem neuen Gott, fühlte ich mich überlegen.
Ich sah sie noch ein einziges Mal wieder, zwei oder drei Jahre später. Sie war inzwischen in eine Ein-Raum-Wohnung in den tiefsten Osten Berlins gezogen, nach Hohenschönhausen. Sie spielte tagsüber Billard in einer Eckkneipe und schaute sich Filme mit der Olsen-Bande an, eine dänische Serie, die in der DDR beliebt gewesen war. Über ihr Studium redete sie nicht mehr. Sie lebte in einer anderen Welt, unsere Welten waren nicht mehr kompatibel.
Wir redeten ein bisschen, umkreisten beide, was uns auseinandergebracht hatte, ohne es anzusprechen. Marlene würde mir nicht mehr verzeihen
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