Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Rennefanz
Vom Netzwerk:
können, dass ich mich abgewandt hatte.
    Wir rangen beide mit dem Gestern, jeder auf seine Art. Wir waren zwei Verlorene, die durch die Zeit drifteten.

Dämonen
    Von außen hätte man mir nichts angesehen. Ich wirkte voll integriert, besuchte Seminare, hielt Vorträge, machte Scheine. Ich arbeitete still und diszipliniert an meinem Uni-Abschluss. Aber innerlich wanderte ich aus.
    An den Sonntagabenden ging ich in eine neue Freikirche, die sich in einer verlassenen Fabrikhalle am Großmarkt in Hamburg niedergelassen hatte. Die Anskar-Kirche wurde 1988, ein Jahr vor der Maueröffnung, als Verein gegründet. Auch wenn sie in ihrer Werbebroschüre jeden religiösen Bezug vermeidet, gehört sie zu jenen evangelikal-charismatischen Kirchen, die beides beschwören: eine perfekte Bibel und eine persönliche Beziehung zu Jesus. Sie steht dem konservativen Netzwerk Evangelische Allianz nahe.
    Als ich 1995 dazustieß, herrschte großer Enthusiasmus. Die Anskar-Kirche sollte eine Megachurch nach amerikanischem Vorbild werden. Im Rückblick gesehen hatte die Kirche Ende der neunziger Jahre ihre beste Zeit. Die Gottesdienste waren voll, jede Woche strömten zwar nicht Tausende wie bei Gemeinden in den USA , aber immerhin Hunderte in die ehemalige Fabrikhalle, um sich segnen zu lassen. Regelmäßig fanden Heilungsgottesdienste statt. Eine Kanzel gab es nicht. Wolfram Kopfermann, der Gründer, stand auf gleicher Höhe und sprach zu den Gläubigen wie zu den Mitgliedern eines elitären Klubs, sie waren die Klügeren, die Rechtschaffenen.
    Anders als in den traditionellen Kirchen durfte jeder kommen und mitmachen, ohne sich sofort zu einer Mitgliedschaft zu verpflichten. Mir gefiel das. In der DDR war der Glaube ein Unterscheidungsmerkmal gewesen: Wer in der Kirche war, machte deutlich, dass er nicht dazugehören wollte. Es forderte Mut. Manche Pastoren genossen auch besondere Privilegien: Sie durften lange vor dem Mauerfall in den Westen reisen.
    Nach der Wende wurde die Nähe zum Kirchenmilieu nützlich, wenn man politisch Karriere machen wollte. Die Bedeutung des Glaubens verringerte sich. Die evangelische Kirche akzeptierte Pfarrer, die Gott für eine Einbildung hielten und traute Paare, die nur wegen der schönen Fotos in die Kirche kamen.
    Die Anskar-Kirche dagegen vertrat die reine Lehre.
    Ich stand in einer Masse von Menschen, die Arme hoch in der Luft. Sie sangen das Lied vom Gott, der größer sei als alle anderen Götter, größer als Allah, größer als Jahwe. Dabei reckten sie ihre Arme nach oben, als wollten sie den Himmel berühren.
    Ich sang mit, mir wurde warm dabei. Der Arm des Mädchens neben mir berührte meinen Arm zufällig. Ich kannte sie nicht, aber wir fassten uns an den Händen und sangen. Die Hand des Mädchens war warm und trocken. Ich fühlte mich leicht, als würde ich fliegen, ich war ganz frei. Es war wie in einem Traum, wenn man in einem Raum eingesperrt ist und plötzlich öffnet jemand die Tür.
    Ich schloss die Augen, vor meinem inneren Auge bildeten sich Muster, helle Kreise oder Kugeln, die umhertanzten. Ich hielt das für ein Zeichen Gottes. Ich sah plötzlich überall Zeichen Gottes.
    Wir wiederholten manches Lied zehn, fünfzehn, vielleicht fünfzig Mal, bis wir uns in eine tranceartige Stimmung gesungen hatten. Manche fingen an zu lallen, als seien sie betrunken, bachalla tarall bachalla. Ich öffnete meine Augen einen Spalt, die Gesichter der anderen glänzten vor Verzückung. Ich ließ mich treiben. Das hatte alles so was Tierisches, Ekstatisches, Unvernünftiges. Da wo ich herkam, hätte man diese lallenden Geister für verrückt erklärt. Die gehört nach Teupitz, sagten die Erwachsenen früher, wenn jemand nicht ganz richtig im Kopf war. Das Städtchen Teupitz südlich von Berlin wurde gleichgesetzt mit dem Psychiatrie-Krankenhaus oder der Irrenanstalt, wie man unkorrekterweise sagte.
    In der DDR galt die Wissenschaft als heilig, aber in den Dörfern war der Aberglaube nie ganz verschwunden. Wenn man eine Gürtelrose hatte oder schlecht schlief, ging man nicht in die Poliklinik in der Kreisstadt, sondern zu einer alten, weisen Frau, um die Gürtelrose und die Schlaflosigkeit mit magischen Sprüchen wegbeten zu lassen. Schwarze Katzen wurden im Dorf ertränkt. Zwischen Weihnachten und Neujahr durfte meine Mutter nie die Wäsche waschen, sonst würde der Tod im nächsten Jahr die Dorfbewohner bestrafen, in jedem Monat einen, bis zum Dezember zwölf Menschen tot wären, deren Seelen nicht

Weitere Kostenlose Bücher