Eisenkinder
fühlte mich Katharina besonders verbunden, ich hatte mit ihr gelebt, sie hatte mich zu Gott geführt.
Es gab aber kein Schild. Katharina hatte mich nicht eingeladen. Sie war überrascht, dass ich die Feier nicht mit den anderen Gemeindemitgliedern verlassen hatte. Als sie das Missverständnis merkte, wollte sie aber auch nicht so herzlos sein und mich wegschicken. Sie malte mir schnell ein Schild, und für mich wurde ein Stuhl an einen Tisch dazugestellt. Ich war so beseelt, dass ich die Blicke der anderen Gäste ignorierte.
Es war ein kleines Missverständnis, aber ein Vorzeichen für die größeren, die noch kommen sollten.
Ich mag die klare, poetische Sprache der Bibel: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde«, lautete der erste Satz des Buches Mose. »Und die Erde war wüst und leer und es war finster auf der Tiefe und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach, es werde Licht! Und es ward Licht!« Das klang so schön, dass ich es unbedingt glauben wollte.
Ich ging mit Gott einen unausgesprochenen Deal ein. Er würde mir zuhören, mich trösten und mir meine Entscheidungen abnehmen. Im Gegenzug dazu würde ich ihn als übernatürliche Intelligenz und übermenschliche Kraft akzeptieren. Die Bibel würde ich Wort für Wort, buchstäblich als Gottes Botschaft annehmen. Es war eine Entscheidung, an der ich keinerlei Zweifel hatte.
Sechs Jahre nach der Wende sehnte ich mich nach Vorbildern, nach einem Halt, nach einer Orientierung.
Wenn Katharina eine clevere Neonazi-Frau gewesen wäre, oder eine radikale Muslimin, hätte sie mich vielleicht ganz genauso auf ihre Seite gezogen. Der Inhalt schien fast austauschbar. Ich kam aus einer Welt, in der zwischen Gut und Böse unterschieden wurde. Man konnte nicht beides sein, man musste sich entscheiden. Das machte mich anfälliger für einfache Wahrheiten.
Mit diesen Mustern war ich aufgewachsen, die legt man nicht so schnell ab. Das war mir damals nicht bewusst. Wäre ich gefragt worden, hätte ich wahrscheinlich sogar abgestritten, dass die sozialistische Erziehung Spuren in mir hinterlassen hatte.
Erst im Nachhinein ergab alles Sinn. Ich fiel in eine angelernte Rolle zurück.
Auch der Kommunismus funktionierte wie eine Religion, mit Merksätzen, Heiligenfiguren und einem Heilsversprechen. Das Leben war wie im Christentum auf die Zukunft ausgerichtet, auf ein Paradies, in dem alle Klassengegensätze überwunden sind.
Die Geschichte war die Geschichte des Klassenkampfes, Freie gegen Sklaven, Patrizier gegen Plebejer, Baron gegen Leibeigene. Irgendwann würden die Gegensätze überwunden und zu einer neuen Gesellschaft, zu Wohlstand und dem Ende der Unterdrückung führen. Proletarier aller Länder vereinigt euch!
Ich ersetzte eine Religion durch die andere, mit dem Unterschied, dass ich diesmal mit vollem Herzen dabei war.
Mein neuer Lenin hieß Jesus.
Die ersten Wochen und Monate, nachdem ich Jesus in mein Herz gelassen hatte, erlebte ich als Befreiung. Das Leben fiel mir leichter, ich brauchte weniger Schlaf, trat selbstbewusster auf. Es war ein Gefühl, wie es Verliebte kennen.
Im Sommer meldete ich mein Wohnheim-Zimmer in Berlin ab, packte meine Sachen und fuhr nach Hamburg. Über eine Annonce fand ich ein kleines Zimmer in einer WG in Hamburg, nicht weit weg von der Universität.
»Die U-Bahnstation heißt Christuskirche«, jubelte ich in meinem Tagebuch. Das reichte für mich als Zeichen, dass Gott das Zimmer für mich ausgesucht hatte.
Für eine junge Frischbekehrte, die ehrgeizig und lernwillig war, boten die Fundamentalisten zahlreiche Entwicklungsmöglichkeiten. Ich besuchte dauernd Schulungen, ließ mich indoktrinieren. Ich wollte alles richtig machen.
Ich nahm alle Regeln an, ich lehnte Sex vor der Ehe und praktizierte Homosexualität ab, ich ließ mich taufen, organisierte Jugendgottesdienste und betete täglich.
Gerade die Regeln, die dem postmodernen Mainstream widersprachen – kein Sex, gegen Homosexualität – gefielen mir. Sie gaben mir Halt und Bedeutung. Es waren die Grenzen, die ich mir noch vor knapp einem Jahr gewünscht hatte. Ich hob mich ab von den Gleichaltrigen, die Oasis und Madonna hörten, Liebeskummer hatten und vom Rucksacktrip durch Indien träumten.
Im Juli 1995 besuchte ich eine Schulung von amerikanischen Missionaren, sie wurde auf Englisch gehalten, ihr Titel: Strategies of non-conformism . Ich hatte inzwischen gelernt, dass das Wort evangelikal aus den USA kam und die wahren Christus-Gläubigen
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