Eisenkinder
Zwang gegen Freiheit. Es gab nur Ja oder Nein, schwarz oder weiß, nichts dazwischen.
Ich sah Wladimir an und sagte, ich könne leider nicht mit ihm Kaffee trinken gehen. Er bedauerte, nickte mir zu und nahm seine Tasche. Er wirkte weniger enttäuscht, als ich gedacht hatte. Erleichtert faltete ich den Tisch zusammen. Ich hatte der Versuchung widerstanden.
Die wichtigste Aufgabe einer bibeltreuen Christin war es, einen Mann zum Heiraten zu finden. Für eine Ehe entschied man sich nicht aus romantischen Gründen, eine Ehe war der natürliche Weg ins Erwachsenenleben. Wer mit 25 noch nicht verheiratet war, galt als Problemfall. Niemand sagte das offen, aber Unverheiratete wurden in der Gemeinde weniger respektiert, sie mussten oft die unpopulären Jobs übernehmen, Kaffee kochen, Toiletten putzen.
Ich war erst 21, spürte aber bereits den Druck.
Doch wie findet man den Richtigen?
Viele Männer waren mit Anfang zwanzig schon vergeben. Auf einen Single-Mann kamen in den bibeltreuen Gemeinden mindestens drei unverheiratete Frauen. Selbst die Unattraktivsten wurden umschwärmt, solange sie ein festes Gehalt und einen sicheren Job vorweisen konnten.
In der Freikirche gab es keine Geschlechtertrennung, aber es wurde drauf geachtet, dass unverheiratete Männer und Frauen wenig Zeit allein verbrachten. Es gab ein kompliziertes Kennenlern-Verfahren, das ich nicht wirklich durchblickte. Von Frauen wurde erwartet, dass sie passiv waren und warteten, bis sie angesprochen wurden.
Draußen, in der realen Welt, sollten Frauen wie Männer sein, Initiative zeigen, kein Risiko scheuen, aber drinnen, bei den bibeltreuen Christen, war eine komplett andere Persönlichkeit gefragt.
Selbst kleine Gesten schienen mit Bedeutung aufgeladen. Wenn man mit einem Mann ein einziges Mal allein spazieren oder ins Kino ging, bestand die Gefahr, dass man danach als Paar angesehen wurde.
Das Wort Beziehung wurde vermieden, es gab nur »Freundschaften«. »Freundschaft« klang rein, unschuldig und schloss körperliche Nähe aus.
Damals wurde ein gewisser Derek Prince viel gelesen: Prince, ein berühmter anglo-amerikanischer Prediger, füllte mit seinen Auftritten ganze Hallen. Zwischen 1983 und 2003 hatte er vierzig Bücher geschrieben. Sie trugen Titel wie Was Sie über Dämonen wissen sollten , Gottes Plan für Ihre Finanzen und Gott stiftet Ehen . Gott war seiner Ansicht nach der beste Heiratsvermittler. Präziser als Internet-Dating, das es damals noch nicht gab.
Prince hatte es angeblich selbst so erlebt: Er lief durch eine Straße, sah eine wildfremde Frau und plötzlich wusste er, dass es die Richtige war. Schwupps, Heirat, Happy End.
Viele christliche Frauen wollten einen Mann, der ihnen Sicherheit bot. Ihr Leben war vorgegeben. Sie durften zwar eine Ausbildung machen oder auch studieren, aber nach der Hochzeit wurde erwartet, dass sie sich hauptsächlich um Kinder und Küche kümmerten. Die Eigenschaften, mit denen Frauen in der Bibel umschrieben wurden: fromm, bescheiden, gastfreundlich, mütterlich, freigiebig. Hure oder Mutter, das waren die Rollen.
Mein Idealbild war anders: Ich träumte von einer romantischen Liebe, von großen Gefühlen, aber ich wollte auch eine Beziehung, in der beide Partner gleichberechtigt waren und alle Aufgaben teilten. Als ich klein war, arbeitete meine Mutter am Wochenende bei der Post, und mein Vater putzte das Bad und kochte. Ich hatte es nie als einen Nachteil empfunden, ein Mädchen zu sein.
Wie ich mein Ideal mit den Vorstellungen der bibeltreuen, untergeordneten Frau versöhnen sollte, wusste ich nicht.
In meinem Tagebuch tauchten damals unzählige Männernamen auf, die mir heute, über fünfzehn Jahre später, nichts mehr sagen. Ich bat Gott um Zeichen, doch er gab mir nie ein Zeichen. Ich sprach nie oder selten einen Mann an. Vielleicht war ich zu schüchtern, vielleicht wollte ich auch den Konflikt zwischen der bibeltreuen Christin, die sich unterwerfen sollte, und der Ostdeutschen, die sich behaupten wollte, vermeiden. Es hätte mein Glaubensgerüst schon viel früher zum Einsturz gebracht.
Einmal in der Woche ging ich zum »Sister Act«. So hieß der Gebetskreis, den meine neue Freundin Ruth gegründet hatte. Sie lebte außerhalb der glänzenden Fassaden des Stadtzentrums, weit weg von der Alster, wo der typische Hamburger am Samstag seinen Porsche spazieren fuhr. Man musste zwanzig Minuten mit der U-Bahn und dann nochmal zwanzig Minuten mit dem Bus fahren, bis man in einer
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